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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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ihr und knöpfte mir den Mantel zu. Sie hatte hastig gesprochen, fast anklagend, aber das Grinsen war nicht aus den Mundwinkeln gewichen. Ich wusste beinahe, was sie als Nächstes sagen würde.
    »Das mag jetzt anmaßend von mir sein, vielleicht sogar überheblich, aber in meinem Alter … Sie sind Julies Bruder, nicht, der berühmte Schriftsteller?«
    Ich sagte einfach ja, der sei ich. Sie streckte die Hand nach mir aus und hielt mein Handgelenk lange fest umfasst. Sie spähte in mein Gesicht hoch, als wollte sie sich ein für alle Mal der Ähnlichkeit versichern. Wer ich war, hatte sie vom ersten Augenblick an gewusst.
    »Dann sehen wir uns heute Abend. Ich habe immer gewusst, dass eines Tages jemand kommen und sich nach ihr erkundigen würde. Sie wollte vom Angesicht der Erde verschwinden. Aber Familien erlauben so etwas normalerweise nicht. Ich hatte schon Angst, dass es zu lange dauert.« Sie bewegte sich in ihrem Sessel, ließ mein Handgelenk los und zuckte dabei vor Schmerz zusammen. »Ich sehe die Ähnlichkeit. Ich weiß auch nicht. Eine Unschlüssigkeit … Vielleicht nicht. Irgendwas.«
    An diesem Abend kehrte ich mit einer Flasche Sherry zurück, und sie wirkte insgesamt wacher. Sie war ohne ihr Gehgestell zur Tür gekommen, stützte sich nur auf zwei dicke Spazierstöcke.
    »Sehr umsichtig von Ihnen«, sagte sie sofort. »Wirklich sehr umsichtig. Es war kein Sherry mehr da. Sie gießen ein. Die Nüsse sind irgendwo. Habe sie in eine Untertasse gegeben. Mein Mann, wissen Sie, der hatte es nicht so mit Sherry. Fand ihn fade. Ein Schlückchen Whisky am Ende des Tages. Ein ziemlich großes Schlückchen, wenn ich hinzufügen darf. Nach unseren Klettertouren kam der Flachmann heraus. Na ja, wenn man zum ersten Mal auf den Lake Peyto hinunterschaut, da traut man seinen Augen kaum, so schön ist das …«
    Ich gab ihr ein Glas Sherry, holte die Erdnüsse und stellte sie neben sie. Dann setzte ich mich und sagte: »Ein paar von diesen Orten in der Broschüre würde ich schon gern sehen.«
    Sie saß so, dass ihr Blick leicht zwischen mir und dem Feuer, in dem frische Scheite loderten, hin und her wandern konnte. In den nächsten Stunden legte ich, wann immer eine Pause überbrückt werden musste, immer mal wieder ein neues Scheit auf.
    »Julie hat es getan. Manchmal fuhren wir zusammen herum. Ich zeigte ihr all diese Orte: Moraine, Louise, Vermillion, die Flüsse Bow und Spray und Peyto, vor allem den Peyto. Zwei- oder dreimal flehte sie mich an, dorthin zu fahren. Ich wollte es, sehnte mich danach, aber dann wollte ich es auch wieder nicht, weil es mich an das erste Mal mit meinem Mann erinnerte. An diesem Tag weinten wir beide ein wenig. Wahrscheinlich ziemlich lachhaft. Julie sah, was es mir bedeutete, und weinte auch. Aber sie wollte trotzdem wieder hin. Beim nächsten Mal meinte sie, wenn ich unbedingt wollte, könnte ich ja am Fuß des Hügels im Auto sitzen bleiben. Sie lachte, als sie das sagte. Ein Witz über Trauer? Gefühllos? Nein. Sie trauerte ja selber um so viel. Um mir etwas beizubringen? Ich weiß es nicht. Erinnerungen seien etwas, das man genießen sollte. Was könne es je Besseres geben, als mit meinem geliebten Mann dort gestanden zu sein? Das sagte sie mit diesem für sie so typischen Lachen, als wäre das Leben selbst ein Witz. Wie auch immer, wo war ich?«
    Im ersten Augenblick war ich überwältigt von der Art, wie sie mit mir sprach. Aus der scharfen Barschheit ihrer Stimme war fast ein vertrauliches Flüstern geworden. »Sie und Julie haben diese Sehenswürdigkeiten zusammen gesehen. Wie haben Sie sie kennengelernt?«, fragte ich.
    »Wie’s damals üblich war, hängte ich in der Schule einen Zettel aus, auf dem ich Unterkunft gegen Mithilfe anbot, obwohl ich die damals kaum nötig hatte. Die Studenten zogen natürlich die Gästezimmer vor, bis auf ein paar. Für die Lehrkräfte gab es sehr gute Unterkünfte. Dann kam eines Tages Julie.« Sie deutete in eine Ecke des Zimmers. »Kaum mehr als ein Kämmerchen. Mein Schreibwarenlager für die Schule. Sie benutzte es nur gelegentlich, einmal die Woche vielleicht. Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern …«
    Sie schaute sich im Zimmer um, als wäre sie überrascht, dass die Bücher noch immer da waren. Ich folgte ihrem Blick.
    »Jetzt haben Sie einen Augenblick lang genau so geschaut wie sie damals. Als sie an diesem Tag kam, rief sie aus: ›Man schau sich nur all diese Bücher an!‹ Ich sehe ihr Gesicht noch deutlich vor mir, der

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