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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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Gedanken waren woanders. Jetzt hatte ich nur noch die Adresse auf der Karte, die die Frau in Toronto mir gegeben hatte, und die lag, wie sich zeigte, nur etwa eine halbe Meile von der Straße zum Centre entfernt.
    Das Haus war nicht recht viel mehr als eine Hütte mit frisch lackierter Holzverkleidung, grünen Läden und einer Brettertreppe, die zur Haustür hochführte. Es gab keine Klingel, und der Klopfer in Form eines Elchkopfes war verrostet und gab kaum ein Geräusch von sich. Lange Zeit reagierte niemand, und ich wollte schon wieder gehen, als die Tür sich öffnete und eine alte Frau mich verärgert anschaute, als hätte ich sie bei irgendetwas gestört.
    »Ich hatte den Heizungsmann erwartet, aber Sie sehen nicht aus wie einer. Trotzdem. Heutzutage … Sie sind nicht doch zufällig einer?«
    »Bitte verzeihen Sie mir …«, setzte ich an.
    »Dass Sie kein qualifizierter Heizungstechniker sind?« Ich war die Treppe wieder hinuntergegangen, und sie schien kein weiteres Interesse an mir zu haben. Ihre Stirn war immer noch gerunzelt. »Und um was geht’s dann? Sie müssen ein bisschen lauter sprechen. Entschuldigung, das war unhöflich.«
    Wieder entschuldigte ich mich. »Ich fürchte, die Sache ist ziemlich unwahrscheinlich. Ich komme aus England – ein Akademiker auf Besuch – und habe einem Freund angeboten, nach Spuren einer lange verlorenen Verwandten zu suchen. Das ist die einzige Adresse, die er hatte. Ich fürchte, das ist schon sehr lange her. Es ist wirklich nur ein Schuss ins Blaue, und es tut mir sehr leid.«
    »Und wie ist der Name dieser lange verlorenen Verwandten?«
    »Julie Bridgewell.«
    Sie nickte, als wäre ich doch der Heizungsmann. »Kommen Sie mal besser rein«, sagte sie. »Stehen da draußen in der Kälte. Mit zu wenig an, wenn ich das sagen darf. Wie’s die Engländer eben machen. Oder sie haben zu viel an. Dinnerjackets am Äquator.«
    Sie zog ihr Gehgestell zurück, um mir Platz zu machen, und ich hätte mir beinahe den Kopf am Klopfer angeschlagen.
    »Grässliches Ding. Abgeschnittene Tierköpfe zum Einlassbegehren habe ich noch nie gemocht. Eine Schülerin hat ihn mir geschenkt, und man weiß ja nie, vielleicht kommt sie mich eines Tages besuchen. Was ist mit dem Klopfer passiert, Mrs. Hayes? Solche Sachen vergessen die nicht. Ein nettes Mädchen, aber so ist es eben.«
    Sie ächzte, als sie sich ins Haus bewegte. An ihren Gelenken konnte man sehen, dass sie stark an Arthritis litt. Sie bedeutete mir mit einer vagen Geste, dass ich mich irgendwo hinsetzen sollte. Es war ein sehr großes Zimmer, fast so groß wie das ganze Haus. Die Türen zum Schlafzimmer und zur Küche standen offen und zeigten die Bäume, die auf der anderen Seite dicht am Haus wuchsen. Es gab zwei abgenutzte, dunkelrote Lehnsessel mit gerader Lehne und ein Sofa mit Decken und gewebten Kissen. Ein Holzfeuer im Kamin war schon fast ausgegangen.
    »Was Sie als Erstes tun könnten, wenn Sie nichts dagegen haben, legen Sie doch ein paar Scheite ins Feuer. Sie sehen ja, warum ich will, dass ein Mann sich meine Heizung anschaut, bevor der Winter kommt. Ich zünde es gleich in der Früh an, und dann, na ja, lege ich nicht so oft nach, wie ich möchte. Ich habe sehr angenehme Nachbarn, die sich um so was kümmern und mir auch mal einen Eintopf bringen. Nachbarn sind alles.«
    Sie ließ sich mühsam in einem der Sessel nieder. Die Läden waren halb geschlossen, und das Zimmer wurde nur von einer trüben Tischlampe erhellt, so dass ich erst jetzt die Bücher sah, die in Regalen vom Boden bis zur Decke reichten, und die gerahmten Schwarzweißfotografien in den Zwischenräumen. Ich legte ein paar Scheite aufs Feuer, schürte es ein wenig und setzte mich in den anderen Sessel. Sie starrte ins Feuer, und es sah nicht so aus, als hätte sie vor, irgendetwas zu sagen. Sie schaute mich nicht einmal an. Es war, als hätten ihre Erinnerungen mich völlig aus ihren Gedanken verdrängt. So zurückgelehnt sitzend, das Gesicht dem Feuer zugewandt, sah sie aus, als wären die Jahre von ihr genommen und die Falten geglättet, und ihre Augen kämpften gegen das Vergessen an.
    »Leben Sie schon lange hier?«, fragte ich, um das Schweigen zu durchbrechen.
    »Ziemlich genau so lange, wie ich zurückdenken will. Dieses Zimmer, wissen Sie, war früher ein Klassenzimmer. Daher die Fotos. Und auch der Klopfer.«
    Wieder wartete ich. Ihre Hände hatten gezittert, aber jetzt wirkte sie sehr entspannt, als hätte die Erinnerung an ihre Schüler

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