Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
Vom Netzwerk:
auftürmenden Wolken immer nur Julies Gesicht – diese endlosen Felder und diese Leere hatte sie wohl auch gesehen, als sie nach Westen an einen Ort reiste, den sie für das Paradies hielt. Und ich wartete auf die hereinbrechende Dunkelheit, denn dann würde ich im Fenster nur noch mein eigenes Spiegelbild sehen. Ich dachte an Julie, stellte mir vor, wie sie sich selbst anstarrte, und fragte mich, was sie da wohl gesehen hatte. Oder hatte sie sich abgewandt, um sich nicht selbst in die Augen schauen zu müssen?

VII
    Und so erreichte ich Julies Paradies – diese Welt der großen, grauen, zerklüfteten Berge, die jetzt nach den ersten Schneefällen frisch weiß betupft waren. Später sollte ich dann auch noch einige der funkelnden Seen sehen, die ihnen zu Füßen lagen und am grünen Rand der Bäume um das Vorgebirge leckten. Ich konnte mir die Befreiung gut vorstellen, die sie nach dem Stadtleben empfunden hatte – die großartige Rohheit der Dinge, wie es gewesen sein musste, als die Erde sich vor Milliarden von Jahren ins Leben hievte. Vielleicht hatte sie es gespürt, das Gefühl der Freiheit, als die Welt begann, Freiheit, als hätte sie all das vergangene Elend und die Kleinheit und das Versagen für immer verbannt.
    Ich fand ein Hotel am Fuß der Straße, die zum Banff Centre führte. Der Sommer war vorüber, und der Winter hatte noch nicht recht begonnen, es herrschte deshalb eine gewisse Leere in der Stadt. Doch man konnte sich leicht vorstellen, dass es hier vor Besuchern wimmelte und wie sie die Attraktionen in den Broschüren des National Park eine nach der anderen abhakten. Nur die Luft zu atmen, die jetzt scharf war von der Kälte des Winters, war eine Art von Befreiung. Die Welt des »sektiererischen Streitens«, die ich in London zurückgelassen hatte, schien in dieser nackten, urzeitlichen Erhabenheit ein ganzes Universum entfernt. Ich dachte an die ruhige Nachdenklichkeit meiner kanadischen Kollegen und fragte mich, inwieweit ihre Art von Unschuld – dieses Fehlen von Engstirnigkeit – hierin ihren Ursprung hatte.
    Meine Heiterkeit begann zu verschwinden, als ich zum Banff Centre hochging, denn ich wusste, dass meine Suche nach Julie hier ein unglückliches Ende finden könnte. Was würde ich Hester bald sagen müssen, und auch Sheila, die sie beide geliebt hatten, ganz zu schweigen von jenen, für die Julies Schicksal ganz einfach prickelndes Klatschfutter wäre? (»Der alte Bridgewell mit seiner hehren Moral. Hätte keinem besseren Mann passieren können.«) Aus ihrer schroffen Pracht heraus verkündeten die Berge nun ihre Gleichgültigkeit. Und sie erinnerten mich daran, was Hester einmal gesagt hatte, nämlich dass wir als Flüchtlinge aus dem Vergessen nur kurz in diese traurige, grausame und gelegentlich wunderschöne Welt gekommen sind.
    Im Centre selbst waren nur wenige Menschen. Bei all der funktionalen Planmäßigkeit seiner Wohnhäuser, Galerien, Studios, Veranstaltungssäle und Ausstellungsräume konnte man geradezu vor sich sehen, wie die Menschen, jung und alt, hier kamen und gingen und ihre Wahrheiten des Sehens und Hörens und Denkens in der Gemeinschaft mit anderen entdeckten – die Früchte der Zivilisation in einer Umgebung aus der Zeit, lange bevor die Zivilisation begann. Julie war hier gewesen, hatte für immer hier bleiben wollen.
    Ich ging in den Verwaltungstrakt und fragte, ob sie Personalunterlagen hätten, die etwa zwanzig Jahre zurückreichten. Die Frau am Empfang rief eine Vorgesetzte, die annahm, ich wollte mich über ehemalige Lehrer oder frühere Studenten erkundigen. Sie schüttelte den Kopf, als ich ihr erklärte, dass die Person, für die ich mich interessierte, eher im hauswirtschaftlichen Bereich, vielleicht in den Küchen gearbeitet habe. Als ich Julies Namen nannte, gab es eine nachdenkliche Pause, dann ein kurzes Zusammenzucken, als würde sie sich an etwas erinnern. Oder hatte ich mir das nur eingebildet? Sie entschuldigte sich und machte sich dann schnell daran, mir von geplanten Programmen zu erzählen, die mich vielleicht interessieren könnten. Ich hatte erklärt, ich sei ein Akademiker auf Besuch aus London, der sich persönlich das Centre ansehen wolle, vom dem er schon so viel gehört habe, also konnte ich kaum noch einmal auf meine Nachforschungen nach früherem hauswirtschaftlichem Personal zurückkommen.
    Sie bat eine Assistentin, mich herumzuführen, was sie auch stolz tat, da sie früher Studentin in einer der Musikkurse gewesen war. Meine

Weitere Kostenlose Bücher