Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
hatte, bevor sie verschwand. Ich hätte sagen können, dass sie in ziemlich ausschweifende Kreise geraten war. Und vielleicht hätte ich gar nicht gemerkt, dass es ihr nicht gefallen hätte, was ich sagte.
So schrieb ich es ein oder zwei Wochen später auf. Es hatte vieles gegeben, was wir nicht ausgesprochen hatten, weil es nicht nötig gewesen war. Ich las noch einmal nach, was Frye über die Abscheulichkeit und Alptraumhaftigkeit der modernen Großstadt geschrieben hatte, dass sie keine Gemeinschaft mehr war. Vielleicht habe ich so etwas Ähnliches über Julies Welt gesagt, bevor sie dieses Paradies betrat, ein Paradies aus Seen und Flüssen und Bergen, eine den Künsten gewidmete Gemeinschaft. Ich hätte auch sagen können, dass dieser Ort etwas besaß, wonach ihre Seele sich gesehnt und das sie für eine Zeit auch gefunden hatte. Und sie hatte auch Liebe hier gefunden. Und dann endet alles in einer Besserungsanstalt für die Bösen. »Es gab die Zeit, da Wiese, Hain und Bach …«
Mrs. French fand ich nach ein paar Telefonanrufen. Nachdem ich mich vorgestellt und erklärt hatte, dass Mrs. Hayes mir die Telefonnummer gegeben habe, schien sie zuerst absolut nicht bereit, mir irgendetwas zu sagen. Ja, sie habe Julie nach England zurückgebracht. Nein, Julie habe nicht gewollt, dass irgendjemand informiert werde. Es seien alle tot, habe sie gesagt. Mrs. Frenchs Bruder hatte angeboten, sich um sie zu kümmern, bis man für sie irgendwo ein Heim gefunden hätte. Ob sie mit ihr in Kontakt geblieben sei, fragte ich sie. Darauf folgte eine lange Pause. Die Frage war unhöflich. »Natürlich«, erwiderte sie. »Man kümmert sich gut um sie.«
Sie nannte mir die Adresse und die Telefonnummer ihres Bruders, und als ich weitere Fragen stellte, sagte sie: »Na ja, das sollten Sie sich besser selber ansehen, meinen Sie nicht auch. Es ist höchste Zeit …«
»Was hätten wir denn tun sollen?«, fragte ich sie. »Sie verschwand einfach. Wir hatten keine Ahnung … Wir warteten einfach ab … schätze ich. Ich komme morgen nach Calgary, um von dort zurückzufliegen. Vielleicht könnten wir uns treffen.«
Wieder eine Pause. »Ich fürchte, das ist nicht möglich. Ich bin für eine Weile nicht in der Stadt. Und wie auch immer … Ich werde meinem Bruder sagen, dass Sie sich vielleicht bei ihm melden.«
Das klang noch endgültiger. Dabei gab es noch so viele Fragen. Ich redete jetzt hastig. »Mrs. Hayes sagte mir, wie gut Sie zu ihr waren. Sie zeigte mir Julies Brief. Wie kann ich Ihnen je danken …?«
»Das ist jetzt nicht mehr nötig.«
»Eins muss ich noch fragen. Wie war es im Gefängnis für sie? Es ist schrecklich, sich vorzustellen … Dieser Brief.«
Plötzlich wurde sie ungeduldig mit mir, sogar wütend, als wollte sie fragen: Und wo waren Sie? Als wäre ich dafür verantwortlich, was aus Julie wurde. Womöglich stimmte es sogar. Wir lebten schließlich in derselben Stadt. Hatte ich mich zu sehr mit meiner heißgeliebten Karriere beschäftigt, um ihr genug Zeit zu schenken, die Zeit, die sie brauchte? Ich hatte mich das selbst schon gefragt, oft sogar, konnte es aber immer schnell wieder abtun. Doch jetzt?
»Ich sage Ihnen nur eins. Schlimmer hätte es kaum sein können. Die Güte, die Freundlichkeit, die gute Laune, von denen Mrs. Hayes mir erzählt hatte, für das alles war dort kein Platz. Sie wurde verspottet, eingeschüchtert, isoliert. Ihr englischer Akzent half ihr auch nicht gerade. Sie versuchte, sich aufzuhängen, hatte aber keine Ahnung … Was wollen Sie noch wissen? Sie kam in eine Einzelzelle. Das Essen musste man ihr bringen. Sie fing an, diesen Brief zu schreiben. Sie gab mir Entwürfe davon, damit ich sie vernichte. Er war ihre Zuflucht. Um sie vor dem Rest zu bewahren. Bis der Rest für sie kaum mehr zu existieren schien.«
»Dann kam sie zu Ihnen … Und der Brasilianer …«
»Belassen wir es dabei, Mr. Bridgewell. Bitte.«
Ich dankte ihr noch einmal und bemerkte, dass auch Mrs. Hayes sehr gut zu ihr gewesen sei.
»Na ja, was hätten Sie denn erwartet? Für Julie konnte man kaum weniger tun.«
Ihre Stimme klang jetzt wieder herzlicher, und das ermutigte mich zu dem Geständnis, dass ich Julies Brief neben mir hatte. Da sei so viel, was Julie auszudrücken versucht hätte, sagte ich, die Dankbarkeit, die Erinnerungen.
»Sie schrieb ihn sehr oft um, bevor sie mich bat, ihn abzuschicken. Oft murmelte sie, jedes Wort darin sei falsch, alles sei zu groß und zu kompliziert. Sie hätte in
Weitere Kostenlose Bücher