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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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unsere Mutter aussieht, wie sie in ihren letzten Jahren nach unserem Weggang gewesen war: einfach nur hoffend, dass sich eines Tages alles zum Besseren wenden würde. Wie wir uns danach sehnen, dass Julie sich eines Tages umdreht und unsere Namen sagt und sich an uns klammert, wie sie es als Kind getan hatte, wenn der Kummer sie überwältigte! Ihre Haare sind grau, und sie benutzt kein Make-up. Doch manchmal wirkt sie wieder wie ein junges Mädchen, diese frische Jugendlichkeit bricht sich Bahn, eine Ahnung des Menschen, zu dem sie früher fast geworden wäre.
    Hester sagt, wir haben jetzt zwei Schwestern zu lieben. Ich sehne mich danach, heute Abend dieses Zimmer zu betreten und zu sagen: »Es wird wunderbar werden, Julie, wenn nächste Woche Mark bei uns ist. Ich habe Karten für zwei Violinkonzerte gekauft, eins in der Queen Elizabeth Hall und eins in der Wigmore Hall, zu dem auch die Schubert-Sonatine gehört, die er bei seinem Vorspiel präsentiert.« Mark ist Julies Sohn.
    Muss er eines Tages erfahren, dass Julie seine Mutter ist? Mrs. Frenchs Bruder Gerald Curry und seine Frau glauben es eher nicht, aber sie sind auch nicht vehement dagegen. Er ist seit seiner Geburt bei ihnen. Die Liebe zwischen den dreien ist so offensichtlich, so tief, dass es falsch wäre, das in irgendeiner Weise zu ändern. Auch um der heiligen Wahrheit willen nicht. Sie sagen, es ist unausweichlich, dass man es ihm eines Tages sagen muss. Dass er Liebe und Verständnis erwarten wird, wie Elizabeth sagte, die nicht gegeben werden können. Aber noch nicht … Wie war es am Anfang? Folgendes schrieb ich für Hester über den Tag, als ich die Currys kennenlernte. Hester hatte eigentlich mitkommen wollen, aber sie musste zu einer Behandlung ins Krankenhaus. Seit ihrer Operation geht es ihr viel besser, sie ist jedoch nicht »dauerhaft geheilt«, wie sie mir sagt und dann hinzufügt: »Aber wer ist das schon?«
    *
    Sie wohnten in einem abgelegenen Cottage und empfingen mich in einem kleinen Wohnzimmer mit Blick aufs Meer. Es war nicht weit weg von der Stelle, wo wir an jenem und an anderen Tagen picknickten. Sie standen links und rechts von mir, als ich aufs Wasser hinunterschaute: grau und glatt, aber der Regen zog von Westen heran, und ein Wind wühlte es zu weißen Spritzern auf. Zuerst sagten sie wenig, und als wir uns setzten, schauten sie einander an. Es war für Gerald das Signal zu beginnen. Sie sprachen sehr ähnlich, mit der gleichen langsamen Nachdenklichkeit. Inzwischen waren sie in Rente, aber beide waren Lehrer gewesen, die Zeit ihres Lebens ihre Worte mit Bedacht gewählt hatten. Ihre vorherrschende Sorge galt meinen Gefühlen, wie es auch für ihre Schüler gegolten hatte. Hin und wieder schauten sie einander an, um sich zu versichern, dass sie mit einer Stimme sprachen.
    Anfangs ließen sie mich wissen, dass sie meine Kolumne regelmäßig sähen und auch einige meiner Bücher gelesen hätten. Sie zeigten mir großen Respekt. Es war mehr als nur gute Manieren. Wie wenig ich das in meinen Augen verdient hatte! So waren die Menschen, für die ich schrieb: anständige und gottesfürchtige Leute, so nannte man sie früher. Mich überwältigte das Gefühl, ihrer unwürdig zu sein.
    Als Mrs. French Julie zu ihnen gebracht hatte, war sie für eine Woche geblieben. Als sie sich verabschiedete, ging Julie mit ihr den Gartenpfad hinunter und winkte ihr am Tor nach. Es gab keinen Abschiedsschmerz, mit Sicherheit keine Tränen. Danach ging sie in ihr Zimmer, hörte Musik und kam zum Tee wieder herunter. Als sie sich nach Mrs. Frenchs Zuhause und ihren Kindern in Calgary erkundigten, schien sie kaum zu wissen, was sie meinten.
    Sie hatten bald aufgehört, sie nach Leuten zu fragen, die sie in England kannte, nach ihrer Familie. So ruhig sie normalerweise war, so erregt wurde sie dann. »Niemanden«, sagte sie. »Niemanden.« Die Nachrichten im Fernsehen regten sie ebenfalls auf, also schalteten sie das Gerät ab, wenn sie ins Zimmer kam. Einmal hatte sie auf eine Reportage über Hungerhilfe in Äthiopien gedeutet, kurz gelächelt, »mein Vater« gesagt und sich dann abrupt umgedreht. Von ihrem Hausarzt wurde sie an einen Psychiater im Krankenhaus überwiesen, der sie für weitere Untersuchungen einbestellen wollte. Wieder hatte die Befragung sie betrübt, und sie schaute sich um, als suche sie nach einem Fluchtweg. Sie warteten vor der Tür, und sie schien erleichtert, sie zu sehen. Umarmungen gab es keine. Hatte es nie gegeben.
    Sie

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