Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
Vom Netzwerk:
ich daran, dass ich ihn bald Hester zeigen würde. Ich hoffe, das hat die Art, wie ich ihn geschrieben habe, nicht beeinflusst. Seine Wahrhaftigkeit. Wichtig war nur, dass Julie Gerechtigkeit widerfuhr. Meine Suche neigte sich dem Ende zu. Bald würde ich sie wiedersehen. Wenn sie nicht mehr am Leben wäre, hätte Mrs. French es mir gesagt. Sie hätte es auch Mrs. Hayes gesagt. Der Brief, den ich eben noch einmal gelesen habe, verfolgt mich – dass er so oft geschrieben wurde und noch viel öfter hätte geschrieben werden können. Was da stand, war eine verbale Oberfläche, unter der ein Aufruhr herrschte, aus dem heraus nichts Endgültiges, Wahrhaftiges gezogen werden konnte. Das öffentliche Leben war nicht so.
    Und während ich nun meinen Laptop zuklappe, den Koffer packe und die Rechnung bezahle, geht mir die Frage nicht aus dem Kopf, welche Sprache für uns, oder für mich, überhaupt von Nutzen ist, abgesehen von dem, was ich so absondere, um meine Punkte zu machen und meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Bald werde ich wieder Kolumnen schreiben müssen. Es wird viel zu sagen geben, da eine neue Wahl droht – das ganze Posieren und Streiten und das zähe Ringen um Ausgaben: politisches Kalkül, das nicht mehr von Ideen oder moralischen Gewissheiten und sicher nicht von großer Menschenliebe geformt wird. Die Verwässerung von Vertrauen, das Gewäsch über Rechte und nicht Pflichten oder Verantwortlichkeiten. Ich kann mich schon selbst schwadronieren hören, mit Zitaten aus Kultur und Anarchie, und eine große Suada halten, wegen der Hester mich aufziehen kann – ihr gescheiter Bruder mit der ganzen Weisheit, die er erst noch aufbrauchen muss. Ich schaue hinaus auf den Cascade Mountain. Das war das Erste, was Julie sah, als ihr Bus in der Main Street hielt und sie, wahrscheinlich mit einem Freudenschrei, ausstieg.

ZWEITER TEIL

IX
    Wieder Hesters Bed & Breakfast. Sie ist mit Julie zu einem ihrer Besuche bei den Alten und Einsamen gefahren, darunter auch zu Henry, der jetzt in einem Altenheim lebt. Sie erzählt mir, dass er nicht aufhören kann, damit zu hadern, was er alles zurücklassen musste. »Dieses andere Land«, nennt er es. Meine Vermieterin hat mir eben erzählt, was Hester, abgesehen von den Hausbesuchen, sonst noch alles für die Gemeinde tut. »Ist immer da, wenn man sie braucht.« Ich gehe später zum Abendessen zu ihnen. Julie ist drei Tage bei Hester.
    Morgen fahre ich sie ins Heim zurück. Der erste Tag ist recht glücklich verlaufen, sagt Hester, doch sicher kann man sich nicht sein. Julie sitzt im Wohnzimmer, sieht sich die Bücher an oder hört mit geschlossenen Augen Musik.
    Als wir ankamen, ging sie, noch bevor sie auf Hesters Begrüßung reagierte, zu den Turner- und Constable-Reproduktionen an der Wand und schaute sie lange an. Sie schien sie zu vergleichen. Sie mussten ihr aus Büchern vertraut sein, aber es wirkte, als würde sie die Bilder, oder Aspekte von ihnen, zum ersten Mal sehen. Hester stand mit verschränkten Armen einfach da und wartete. »Hallo, Julie«, sagte sie. Eine Umarmung gab es nicht. Julie schaute und lächelte sie an wie jemanden, an den sie sich schwach erinnerte, von dem sie glaubte, er würde nett zu ihr sein.
    Ich trug ihr den Koffer ins Zimmer hinauf, und als ich zurückkam, saß sie vor dem Feuer und starrte hinein. Sie schaute zu mir hoch. »Das war eine lange Fahrt«, sagte sie. »Im Winter gibt es keine Blätter.« Zuvor hatte ich sie kaum einmal reden hören. Im Auto hatte sie zum Fenster hinausgestarrt und auf keine meiner Fragen geantwortet. Hester fasste nach meiner Hand. Julie schaute jetzt zwischen uns hin und her. Doch in ihrem Blick lag kein Wiedererkennen. Sondern eher die Hoffnung, dass wir nicht enttäuscht von ihr waren, dass uns ihre Anwesenheit nicht lästig war, dass wir harmlose, vertraute Fremde waren.
    Sie hatte uns dreimal gesehen, als wir sie im Heim und in der Werkstatt besuchten. Ihre blauen Augen wirken jetzt größer, sind nicht mehr versteckt, wenn sie lacht. Jetzt lacht sie nicht. Sie zeigt ein gelassenes, schmales Lächeln, in der Erwartung, dass alle glücklich sind. Und ihre Augen. Es steht noch dieselbe Angst in ihnen, derselbe Selbstzweifel, aber jetzt undeutlich wie auf einer alten Fotografie. Keine Sehnsucht. Vor allem keine Neugier, keine Eindringlichkeit, keine Lebensliebe. Das Lächeln ist eins des permanenten Akzeptierens, wie die Dinge sein sollten.
    Hester und ich finden übereinstimmend, dass sie jetzt manchmal wie

Weitere Kostenlose Bücher