Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
Einfach nur herumzusitzen. Anscheinend las sie sehr viel. Es wurden Bücher aus der öffentlichen Bibliothek ausgeliehen. Vorwiegend Kunstbücher. Die Reproduktionen starrte sie dann stundenlang an.«
»Diese Frau. Sie scheint außergewöhnlich …«
»Ja, sehr. Ihr Mann macht irgendwas in Öl. Sie dachte, es würde Julie helfen, mit den Kindern zusammen zu sein. Das konnte sie sehr gut, auch wenn sie kaum redete, außer in Babysprache. Sie hatte ›den Kontakt verloren‹. Das war der Ausdruck, den sie verwendete. Die Pillen betäubten sie, hielten sie vom Weinen ab. Ja, eine sehr freundliche Frau. Praktisch. Professionell. Wenn sie sich um Julie kümmern wollte, hatte sie gar keine andere Wahl.«
»Also wohnte sie einfach bei ihr. Und dann?«
»Ja, das wollen Sie gerne wissen. Als Nächstes tauchte Paulo auf. Sie zog einfach ihren Mantel an, als hätte sie auf ihn gewartet, winkte beim Weggehen und blieb zwei Tage lang verschwunden.«
»Zwei Tage? Aber …«
»Sie kam zurück, ging in ihr Zimmer und verstummte wieder. Es gab absolut kein Geräusch, nicht einmal von dem Kassettenrekorder, den sie ihr geschenkt hatten. Zu den Mahlzeiten kam sie herunter, und sie erzählte ihnen, dass ihr Freund nach Brasilien zurückgekehrt sei. Einfach so. Mit einem Achselzucken. Jetzt schien sie darauf zu warten, irgendwo hinzugehen. Sie sprach von ›nach Hause‹. Sie meinte, vielleicht erwarte sie ja jemand.«
»Das kann nur heißen, dass sie uns wiedersehen wollte.«
»Nein, ich fürchte nicht. Sie weigerte sich, irgendetwas über ihre Familie zu sagen, auch nicht, wo sie lebte. Das Schweigen kehrte zurück. Sie wurde wieder leer, außer wenn sie mit den Kindern zusammen war. Sie schienen sie sehr zu mögen.«
Sie bückte sich und hob einen Umschlag vom Boden auf. »Ich glaube, das sollten Sie sehen. Sie brachte viel Zeit mit dem Schreiben eines Briefs zu. An mich. Überall im Zimmer lagen Entwürfe verstreut. Sie hatte im Gefängnis angefangen und zerbrach sich dann den Kopf darüber, dass ich ihn nie erhalten würde, deshalb versprach Mrs. French, so war sie eben, ihn persönlich abzugeben. Da ist er …«
Julies Handschrift war immer ein schlampiges Gekritzel gewesen, aber dieser Brief war in einer kräftigen, runden Schrift wie der eines Kindes geschrieben:
Liebe Mrs. Hayes,
wenn ich Sie das nächste Mal besuchen komme, können wir dann bitte wieder an den Lake Peto fahren. Bitte verzeihen Sie mir, falls das nicht die korrekte Schreibung ist. In meinem vergangenen Leben habe ich oft Sachen falsch gemacht, und meine Fehler sind ernsthafter Aufmerksamkeit nicht wert. Jetzt wünsche ich mir, ich wäre Ihre Schülerin gewesen. Dann wäre alles anders geworden. Es tut mir leid, dass der See Erinnerungen für Sie hat, die Sie zum Weinen bringen. Erinnerungen tun das. Er ist wahrscheinlich das Schönste, woran ich mich in der Natur erinnern kann. Aber ich habe noch nicht genug von ihr gesehen, bis auf das Meer und die Klippen. Es hatte die Farbe des Verlobungsrings meiner Mutter. Ich weiß nicht, was sie damit machte, als mein Vater nach Afrika ging. Ich hatte einen Bruder und eine Schwester, die immer versuchten, nett zu mir zu sein. Ich weiß nicht, wohin sie gegangen sind. Ich glaube nicht, um Hungernden zu helfen, wie mein Vater. Ich werde sie nicht wiedersehen. Das wollen wir nicht. Ich habe sie geliebt, aber ich habe sie sehr lange nicht gesehen, und ich glaube, sie sind tot. Wie meine Mutter und mein Vater. Alle tot. Paulo ist in ein anderes Land gegangen. Wenn er tot ist, werde ich es nicht wissen. Ich hoffe, meine Mutter hat den Ring nicht weggeworfen. Er funkelte in der Sonne. Einige Dinge können immer wieder zu etwas gut sein. Mein Vater war zu beschäftigt mit seiner wohltätigen Arbeit, um zurückzukommen und zu sehen, wie wir ohne ihn zurechtkommen. Das Problem war auch, dass wir ihn langweilten, weil wir nicht genug über seine Witze lachten usw. Meine Mutter war ein sehr vorsichtiger Mensch. Sie wurde noch stiller, als wir einer nach dem anderen von zu Hause weggingen. Sie kümmerte sich sehr gut um uns. Manchmal musste man sie daran erinnern. Man konnte deutlich sehen, wie sehr sie uns liebte. Sie redete nur, wenn es darum ging, sich um uns zu kümmern und uns glücklich zu machen. Oft ist es besser, nichts zu sagen. Manchmal schaute sie hoch, als erwartete sie, dass mein Vater gleich zur Tür hereintritt und vermutlich einen seiner Witze reißt. Früher lebte ich in England. Vielleicht gehe ich
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