Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
Brief behalten könne, wenn ich wolle. Ich wollte sie noch fragen, wie es Julie im Gefängnis gegangen sei, doch sie unterbrach mich barsch.
»Woher soll ich denn das wissen? Da müssen Sie schon Mrs. French selber fragen. Ich glaube, Sie werden feststellen, dass sie ein sehr direkter Mensch ist.«
Sie machte eine abwehrende Handbewegung und bedeckte kurz die Augen, wie um auszudrücken, dass fast alles zu schmerzhaft werden kann, wenn es nur die kleinste Chance dazu bekommt. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, eine Kopie zu machen und sie mir zu schicken.«
Sie sah zu, wie ich den Brief wieder in den Umschlag steckte. Sie starrte mich an, wollte meine Aufmerksamkeit. Es war ein hartes Starren, wie um mich zur Rechenschaft zu ziehen.
Sie sprach langsam und sehr bedacht. »Ich nehme an, wenn man inmitten von wichtigen Ereignissen in der öffentlichen Sphäre lebt, wie Sie es tun, müssen die ganzen persönlichen Trivialitäten, die die Menschen beschäftigen, nun ja, doch unwichtig wirken?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das …«, setzte ich an, aber sie lächelte plötzlich, als hätte sie es gar nicht so gemeint.
»Denken Sie sich nichts. Dieser Brief. Er ist für mich sehr wertvoll. Ich lese ihn immer wieder. Er bringt Julie zu mir zurück. Er lehrt mich etwas. Ich weiß nicht so recht, was. Er ist etwas, an das ich mich klammern kann. Er ist wie ein Brief von jemandem aus einer Abflughalle, der zu einer langen Reise aufbricht, ohne zu wissen, wohin – in eine Welt, die weit entfernt ist von dieser, wo das Leben nur in der Phantasie existiert. Ein friedliches Reich. Wer hat das gesagt? Sie hat geschrieben, sie will nur, dass alle immer glücklich sind, das ist es.«
Ich schüttelte den Kopf. Auch ich sah Julie vor mir, bei einem Abschiedsessen in Soho, wie sie sich von mir abwandte, um ihre Scham und ihren Kummer zu verbergen, oder an einem Strand, wie sie zu den Eltern schaute und einen Verlobungsring funkeln sah.
Jetzt beugte sie sich vor und schaute mir tief in die Augen, als würde sie nach den richtigen Worten für einen endgültigen Abschied suchen, nach einer Möglichkeit, sie so zu sagen, wie sie gerne in Erinnerung bleiben wollte.
»Sie ist die ganze Zeit hier. Immer auf dem Sprung, um ein Buch zu holen, eine Platte aufzulegen. Es war eine Art Verzweiflung. Genau das war es. Und wie sie sagte, dass sie nie glücklicher gewesen war als zu den Zeiten, da wir diese Seen gemeinsam sahen: dieses massive, rohe, ursprüngliche, absolut wunderschöne Paradies, das uns zu unserer wahren Größe schrumpfen lässt … Es tut mir leid. Ich fange an zu plappern. Wissen Sie, als sie kam, waren es keine Wolken der Herrlichkeit, die sie nach sich zog. Dieses Wordsworth-Gedicht liebte sie sehr und schlug es immer wieder auf. Wolken des Verlusts, des Bedauerns, des Unglücks. Doch am Ende auch Liebe in ihnen. Dieser junge Brasilianer … Ach du meine Güte! Ob ihr neues Leben hier anfangen könnte, fragte sie mich einmal …«
Ihre Stimme war wieder zu einem Flüstern geworden. Da war etwas, das sie endgültig aufgegeben hatte. Sie hatte ihr Paradies gekannt. Sie hatte versucht, es mit Julie zu teilen. Und jetzt wollte sie nur noch in Frieden sterben. Sie hatte Julie für mich wiederauferstehen lassen, hatte sie mir zurückgegeben. Was konnte sie mehr tun? Ich versuchte, etwas in dieser Richtung zu sagen.
»Wie kann ich Ihnen danken? Ich sage Ihnen Bescheid, wenn ich sie finde. Ich richte ihr Grüße von Ihnen aus.«
Sie öffnete weit die Hände, wie um ein Geschenk entgegenzunehmen. »Kann es mir in meinen letzten Tagen nicht erlaubt sein, mich an sie zu erinnern, wie sie war? Ich will das von nichts überlagern lassen, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich fürchte, sie wird sich nicht sehr lange an mich erinnert haben. Die Welt ist zu sehr bei uns oder besser gar nicht bei uns.« Jetzt lächelte sie endlich, die letzte, einfachste Offenheit. »Ich möchte es lieber nicht erfahren. Man bleibt lieber im Gedächtnis.«
Ich stand auf, legte ihr die Hand auf die Schulter, und als ich meinen Dank gemurmelt hatte, sagte ich, wenn es so wäre, würde Julie sich auch an mich nicht erinnern. Es war heiter gemeint, doch auf dem Rückweg zum Hotel fragte ich mich, ob das für mich weniger schmerzlich wäre als für sie. Die Julie, die sie gekannt hatte, war ganz anders als die meine. Jetzt war es fast so, als hätten wir gar keine gemeinsame Julie. Ich hatte ihr nichts von dem Leben erzählt, das sie in London geführt
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