Die Frau im Fahrstuhl
erscheinen, obwohl die Scheidung meiner Eltern schon über dreißig Jahre zurückliegt.
Wir haben das so gelöst, dass wir am Vormittag des Heiligen Abends zu Papa fahren. Dort gibt es dann ein Weihnachtsbüfett, und die Weihnachtsgeschenke werden verteilt. Bisher gab es auch immer einen Weihnachtsmann. Die Kinder hatten an diesem Arrangement nichts auszusetzen und fanden immer, dass sie so zu zwei Weihnachtsfeiern am selben Tag kommen. Papa hat sich jedes Jahr darauf gefreut, Heiligabend die glänzenden Kinderaugen zu erleben.
Am Nachmittag haben wir dann immer das nächste Weihnachtsbüfett über uns ergehen lassen, weil Mama nicht zu spät am Abend essen will. Dann kann sie nicht schlafen.
Meine Schwiegermutter und meine Mutter können sich nicht ausstehen. Das ist so, seit wir vor achtundzwanzig Jahren geheiratet haben. Mama hat damals ein wahnsinniges Theater veranstaltet, weil Papa zur Hochzeit eingeladen war. Er kam allein, aber das half nichts. Vor dem Altar machte meine Mutter eine Szene. Meine Schwiegermutter wurde wütend, weil meine Schwiegereltern das Fest bezahlt hatten. Sie fanden, Mama habe die ganze Hochzeit verdorben. Seither haben meine Schwiegermutter und Mama nicht mehr Worte gewechselt als unbedingt nötig.
In den letzten Jahren hat an Heiligabend alles recht gut funktioniert, da wir immer erst am ersten Weihnachtstag zu meinen Schwiegereltern gefahren sind. Letztes Jahr starb mein Schwiegervater überraschend, und wir sahen uns einem großen Dilemma gegenüber. Meine Frau ist wie ich Einzelkind. Wenn wir meine Schwiegermutter nicht zu uns einladen würden, dann müsste sie den gesamten Heiligabend allein verbringen.
Unsere beiden ältesten Kinder sind erwachsen und wohnen nicht mehr zu Hause. Der Älteste, Thomas, hat ein Kind. Ein Mädchen, das Astrid heißt. Das Kind ist nach meiner Großmutter mütterlicherseits getauft. Letzte Weihnachten war Astrid gerade zur Welt gekommen.
Unsere Tochter heißt Christina und erforscht t-RNA. Sie ist als Biochemikerin in der Krebsforschung tätig. Was genau sie erforscht, weiß ich nicht, aber es hat mit der Übertragung von Informationen zwischen den Zellen zu tun. Soweit wir wissen, hat sie keine feste Beziehung.
Martin ist unser Nachzügler. Er geht aufs Gymnasium und wohnt noch zu Hause.
Wie gesagt, bei uns war Heiligabend immer stressig. Letztes Jahr wurde es dann regelrecht hysterisch.
Meine Frau verlangte, dass meine Schwiegermutter ebenfalls den Heiligabend bei uns verbringen sollte. Natürlich fand ich auch, dass das nur recht und billig war, hatte jedoch meine Zweifel. Meine Mutter und meine Schwiegermutter einen ganzen Tag lang unter einem Dach konnte nur zu Komplikationen führen.
Jetzt hätte man meinen können, Papa hätte bis zum ersten Feiertag damit warten können, uns zu sehen, dann hätten wir ihn nicht auch noch am Vormittag aufsuchen müssen, ein ziemlicher Stress. Aber nein. Das sei eine schöne alte Familientradition, dass alle Enkel an Heiligabend ihren Großvater sähen, sagte er eindringlich. Das Argument, dass diese Enkel keine Kinder mehr seien, verfing nicht. Das waren sie nämlich in seinen Augen noch immer. Da er bald 83 Jahre alt wird, ist seine Einstellung vielleicht nachzuvollziehen. Sein Trumpf war, dass es jetzt ein neues Kind in der Familie gebe. Geduldig versuchte ich, ihm zu erklären, dass Astrid zu klein sei, um mit funkelnden Augen Geschenke auszupacken. Sie war gerade mal zwei Monate alt. Er tat so, als höre er nichts. Anschließend brachte er sein letztes, schlagendes Argument vor. Tief betrübt seufzte er, das sei vielleicht sein letztes Weihnachten. In seinem Alter könne man nie wissen… Soweit ich weiß, ist er kerngesund und war in seinem Leben noch keinen Tag krank.
Es bestand jedoch die Gefahr, dass an dem, was er sagte, etwas war. Wir gaben also klein bei und beschlossen, uns mit dem gesamten Clan um zehn Uhr bei Papa und seiner Frau einzufinden. Das gab uns drei Stunden, um bei ihnen Weihnachten zu feiern. Um halb zwei mussten wir wieder zu Hause sein, denn dann würden zwei Taxis bei uns eintreffen. Obwohl Mama meine Schwiegermutter auf dem Weg zu uns problemlos aufpicken könnte, würde es keiner der beiden Damen im Traum einfallen, das jemals vorzuschlagen.
Die kleine Astrid litt an Koliken. Heiligabend war es schlimmer als sonst. Thomas’ Lebensgefährtin hatte am Vorabend den eingelegten Hering probiert und Glögg getrunken, und die starken Gewürze waren in die Muttermilch
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