Die Frau im Tal
Ärztin. Ich weiß, was du durchgemacht hast.«
»Im Moment empfinde ich die drei Monate als lang. Vielleicht, weil ich so weit weg von zu Hause bin.«
»Da kommt Eirik«, ruft sie, deutlich erleichtert über die Unterbrechung des Gesprächs.
Eirik Kjosen begrüßt mich wie einen alten Freund, legt die Arme um mich wie eine eiserne Klammer.
»Aksel! Willkommen! Wir hatten keine Ahnung, wo du dich herumtreibst, bis Sigrun aus Kirkenes anrief. Wir hatten nur W. Gudes Wort, daß du kommen würdest. Und hier bist du! Quicklebendig! Die Schüler freuen sich ja so!«
Er starrt besorgt auf die Wunde auf meiner Stirn, sagt aber nichts. Sigrun hat ihm sicher am Telefon von den Ereignissen des vorigen Abends erzählt.
Ich mag ihn. Er strahlt Stärke und Großzügigkeit aus und erinnert mich an Vater in seinen besten Augenblicken. Mein Gott, Vater. Er hängte sein Leben an eine andere Frau und verschwand für die Welt. Ich darf nicht so werden, denke ich. Darf mich nicht für das Falsche entscheiden. Jetzt habe ich mich für die Finnmark entschieden. Skogfoss im Pasvikdalen. Jetzt muß ich mich der Aufgabe würdig erweisen.
Ich begrüße Rektor Sørensen und die anderen Lehrer. Sie sind herzlich und offen. Ich mag Sørensen. Ich sehe an seinem Blick, daß er mich akzeptiert, bevor ich einen Ton gespielt habe. Dann werde ich in den Internatsflügel geführt. Dort wohnen 36 Schüler in Viererzimmern. Ich bekomme ein Zimmer für mich allein. Ich bin der Pianist aus Oslo. Die andern sind Gleichaltrige. Sie grüßen mich neugierig auf dem Flur. Wissen sie, daß ich bereits Witwer bin? Daßich schon ein Stück oben bin auf der Karriereleiter, daß ich mein eigenes Geld verdienen kann, weil ich auf den Schulbesuch verzichtete, kein Abitur machte, weil ich von der Musik leben wollte?
Eirik Kjosen begleitet mich.
»Es ist nur noch eine Stunde bis zum Konzert. Willst du dich ausruhen? Willst du das Instrument ausprobieren?«
»Weder noch. Nur mich ein bißchen sammeln.«
»Fühl dich wie zu Hause«, sagt er.
Ich sehe seine blauen Augen. Sie sind freundlich. Ich spüre, daß ich ihm vertrauen kann.
»Ich brauche Alkohol«, sage ich.
»Jetzt?« sagt er erschrocken.
»Ja«, sage ich verlegen. »Anstelle von Tabletten.«
Er nickt. »Ich verstehe.« Dann überlegt er lange.
»Nur, wenn es keine Probleme macht«, sage ich.
»Im Internat besteht Alkoholverbot. Ich hoffe, du verstehst das …«
Sigrun steht plötzlich neben ihrem Mann in der Tür. Sie streichelt ihm rasch über die Wange und schaut mich besorgt an. Was sieht sie? Ein Wrack von einem jungen Mann, der ohnehin scheitern wird?
»Ich weiß eine Lösung«, sagt sie. »Ich bin nicht an der Schule angestellt. In fünf Minuten bin ich wieder da.«
Sie verschwindet. Eirik Kjosen setzt sich neben mich aufs Bett.
»Muß das wirklich sein?« sagt er. Ich höre an seiner Stimme, daß er es versteht, mit seinen Schülern zu reden. Aber ich bin keiner seiner Schüler.
»Es muß sein. Ich brauche jetzt Kraft. Kraft und Mut.«
»Du willst dir Mut antrinken? Das ist das Dümmste, was du tun kannst.«
»Dann muß ich offenbar Dummheiten machen.«
Sigrun kommt mit einer Thermoskanne, die sie mir wortlos reicht.
»Hier hast du Kaffee«, sagt sie. »Kaffee des Hauses, der schmeckt gut.«
»Danke«, sage ich.
»Wir lassen ihn jetzt in Ruhe«, sagt sie zu ihrem Mann.
Sie schließen die Tür hinter sich. Ich sitze allein in dem kleinen Zimmer und trinke eiskalten Wodka mit Kaffeegeschmack.
Draußen vor den Fenstern sehe ich die Tannen. Das Licht ist blau, wie in den Sommernächten daheim.
Draußen im Korridor höre ich das muntere Lachen von Schülern.
Was in aller Welt soll ich für sie spielen? denke ich.
Klavierkonzert an der Grenze
Rektor Sørensen spricht die einleitenden Worte. Der kleine Allzweckraum ist brechend voll. Nach einem Brand ist hier alles provisorisch. Ist das hier ein Kaminzimmer oder ein Turnsaal? Das Gebäude in Skogfoss bleibt nur so lange, bis die neue Schule in Svanvik fertig ist. Sigrun und Eirik sitzen in der ersten Reihe, viel zu dicht an dem kleinen, braunen Klavier mit den Tasten aus Plastik. Ich habe keine Ahnung, ob es gestimmt ist.
Rektor Sørensen liest die Besprechungen meines Debüts in Oslo vor. Die lobenden Worte in Aftenposten und Dagbladet. Das ist mir jetzt fast peinlich. Was bedeutet mir dieses Konzert jetzt? Es war der Abend, an dem Marianne starb. Ich spüre die neugierigen Blicke, die offenen Gesichter der Schüler. Was
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