Die Frau im Tal
erwarten sie? Die Beatles? Die Rolling Stones? Diese Art Musik kann ich nicht.
Dann richtet Rektor Sørensen den Blick auf mich.
»Es heißt, daß du hier in den hohen Norden gekommen bist, um zu üben und Ruhe zu finden?« sagt er.
»Das trifft zu«, sage ich.
»Was willst du einstudieren?« fragt er.
»Rachmaninows zweites Klavierkonzert«, sage ich.
»Das russische Genie«, sagt Sørensen begeistert. »Kannst du uns heute etwas aus diesem Konzert vorspielen?«
Genial, denke ich. Der Mann muß eine unglaubliche Intuition haben.
»Natürlich kann ich etwas aus dem Konzert spielen«, sage ich erleichtert. »Ich beherrsche es zwar noch nicht vollständig, aber ich kann die wichtigsten Themen spielen.«
Rektor Sørensen weiß nicht, wie sehr er mir geholfen hat. Ich bin nicht mehr in der Lage, etwas Perfektes vorzustellen. Vielleicht merkt es auch Sigrun. Von jetzt ab und vielleicht für immer wird es mein Los sein, das Unfertige zu vermitteln, das Bruchstückhafte, das Unvollendete. Ab jetzt wird es meine Aufgabe sein, falsch zu spielen. Selma Lynge würde mich umbringen, wenn sie wüßte, worauf ich mich einlasse: Teile aus einem Konzert spielen, das ich noch nicht beherrsche. Es ist das Gegenteil von meinem Traum: Im Traum spielte ich perfekt, aber niemand kann mich hören. Jetzt spiele ich mit steifen Fingern und Patzern am laufenden Band. Aber man hört mich! Die Themen überleben sogar in einer so unvollkommenen Darbietung! Es ist fürchterlich, an einem kleinen, braunen und ungestimmten Klavier zu sitzen, mit einem Gefühl völliger Gleichgültigkeit. Fürchterlich, mit Rachmaninows ornamentreicher Verrücktheit anzufangen und zu merken, daß ich technisch höchstens mittelmäßig bin. Natürlich ist es mangelhaft, schließlich ist es nicht ordentlich eingeübt.Aber dann, als ich zu den berühmten Themen komme, packt mich eine Leidenschaft, eine Unbekümmertheit, wie ich sie bei Gabriel Holst gelernt habe: die Musik mit dem eigenen Willen formen und nur damit. Der Alkohol hat mich noch dünnhäutiger gemacht, hilft mir aber in diesem Moment. Ich habe das Gefühl, verdammt gut vorbereitet zu sein, ausgeschlafen und topfit. Der Wodka erzeugt ein Selbstvertrauen, so groß wie die Finnmarksvidda. In meinem Kopf sind Schneekristalle. Die Schüler der Internatsschule merken, daß es mir ernst ist, daß ich kämpfe da vorne, um ihnen etwas zu geben, etwas Mittelmäßiges, das nicht in die Musikgeschichte eingehen wird, aber das vielleicht, wenn ich Glück habe, in ihre individuelle Geschichte eingeht: der junge, heruntergekommene Pianist, der Melodien spielte, die sie noch nie gehört haben, die sich listig in ihr Unterbewußtsein schleichen, wie das nur Rachmaninow fertigbringt. Und weil ich weiß, daß diese Themen aus einer Depression heraus entstanden, aus einem Gefühl der Sinnlosigkeit, fällt es mir plötzlich leicht, sie zu spielen, zu formen und dort auszuruhen, wo die technischen Schwierigkeiten zurücktreten wie im berühmten Thema des letzten Satzes. Ich sitze an einem braunen, abgewetzten und ungestimmten Klavier, unter dessen Tastatur alter Kaugummi klebt. Ich bin so weit entfernt von der noblen Aula wie nur möglich, und trotzdem merke ich, daß ich konzentriert bin, ebenso konzentriert wie damals, als ich während des Debüts die Beethoven-Fuge aus op. 110 spielte. Die Fragmente bekommen einen Sinn. Die musikalische Idee, um die mich Rektor Sørensen bat, beginnt Form anzunehmen.
Hinterher kann ich nicht sagen, ob der Alkohol mich besiegt hat oder ich ihn besiegt habe. Die Stimmung in demRaum ist ekstatisch. Meine Altersgenossen, die Schüler der Internatsschule, zeigen mir lautstark ihre Begeisterung. Ich sehe mitten in der Menge ein hübsches Mädchen mit langem, schwarzem Haar. Sie erinnert mich ein bißchen an Anja, wirkt selbstsicher und verloren zugleich. Sie schaut mich unverwandt an, während sie klatscht. Die Augen drücken Dankbarkeit aus. Ich habe ihr offensichtlich etwas gegeben. Und als ich meinen Blick schweifen lasse, sehe ich überall in offene Gesichter, wir sind zu einer Gemeinschaft geworden, einer Gemeinschaft, die Rachmaninow erzeugt hat. Nur drei Jungs in der hintersten Reihe treiben ihre Späße, wie es üblich ist in diesem Alter.
»Zugabe«, rufen die andern. »Zugabe!«
Sigrun und Eirik klatschen auch, lächeln zustimmend. Habe ich sie in Erstaunen versetzt? Dachten sie etwa, daß ich es nicht schaffen würde, einigermaßen gut zu spielen? Dachten sie, der Wodka
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