Die Frau im Tal
heute und der Alkoholkonsum des letzten Tages würden dazu führen, daß ich vor ihren Augen zusammenklappe?
Jetzt fühle ich mich betrunken. Der Fußboden schwankt. »Zugabe! Zugabe!« rufen die Schüler.
»Ja, ihr sollt eine Zugabe bekommen«, sage ich. »Was wollt ihr hören?«
»Chopin?« ruft Rektor Sørensen enthusiastisch.
»Oder Grieg?« ruft Eirik pädagogisch. »Grieg würde, glaube ich, den Schülern gefallen.«
»Ihr sollt beides bekommen«, sage ich und höre zu meinem Schrecken, daß ich nuschle. Egal. Es geht um die Musik.
»Zuerst Chopin«, sage ich. Die g-Moll-Ballade. Die ist bekannt. Die sitzt wie im Schlaf. Aber ich habe sie lange nicht mehr geübt. Ich wage es trotzdem. Der Anfangist nicht schwierig. Die Probleme kommen erst später. Im verspielten Mittelteil drohe ich fast zu scheitern. Höre nur ich die kleinen Patzer in der Es-Dur-Partie? Aber als sich die Ballade der großen A-Dur-Partie nähert, reiße ich mich zusammen, sammle wieder Kraft, starre auf die Tasten und stelle zu meiner Überraschung fest, daß ich in den Oktavläufen nicht daneben greife. Ich merke, daß die Schüler gespannt die bravouröse Meisterung der technischen Passagen und den abrupten Wechsel zu den innigen, fast naiven Melodien verfolgen. Alle Melodien, die Chopin schrieb, sind in meinen Ohren wie Wiegenlieder. Sie erinnern mich an die Stimme meiner Mutter. Was das angeht, ist auch der polternde g-Moll-Schluß geeignet, mich besonders an Mutter zu erinnern, im Rotweinrausch, wenn sie anfing, mit dem Radio auf Reisen zu gehen, wie sie es nannte, um Brahms oder Tschaikowsky auf Mittelwelle zu empfangen. Aber vor allem der Schluß, das ist ein feuriger, slawischer Tanz, und ich habe an dieser Schule bereits festgestellt, daß sie, auch wenn der Krieg als kalt bezeichnet wird, ein gutes Verhältnis zu allem hat, was nicht norwegisch ist, und besonders zu dem Land östlich der Grenze. An den Wänden des Korridors habe ich Fotos gesehen von Schulfahrten nach Moskau und Leningrad. Und es ist eine beinahe russische Begeisterung und Emotion, als sich Rektor Sørensen erhebt und Bravo ruft und ich gleichzeitig verwundert merke, daß ich auch bei der g-Moll-Ballade mit heiler Haut davongekommen bin. Was macht der Alkohol bloß mit mir? Ich würde es nicht einmal wagen, die Ballade privat für Selma Lynge zu spielen, so wenig, wie ich sie geübt habe. Aber ich konnte sie, intuitiv. Und jetzt ist alles bereit für Grieg. Fast ein Triumphzug in meinem unkritischen Zustand, in dem ich unmittelbar Freude an der Musik habe, während ich spiele. Fast als hätte mir derAlkohol die nötige Distanz zu mir geschaffen, eine Distanz, die ich früher nie hatte, wodurch ich in der Lage bin, die lyrischen Stücke »Norwegischer Volkstanz«, »Notturno« sowie »Hochzeitstag auf Troldhaugen« so zu spielen, wie sie in diesem Moment von den Zuhörern im Raum empfunden werden. Der Alkohol ruft eine Begeisterung hervor, wo vorher Panik war. Die Panik, falsch zu spielen, die Noten zu vergessen. Ich spiele »Hochzeitstag auf Troldhaugen« mit derselben Präzision und Leidenschaft, mit der Anja das Stück spielte, als sie den Juniormeister Klavier gewann. Ich muß fast entzückt seufzen über meine eigene Ergriffenheit im lyrischen Teil.
Der Jubel will kein Ende nehmen. Sie stehen auf vor mir. Rektor Sørensen wirft mir Komplimente zu. Eirik Kjosen klatscht mit den Händen über dem Kopf, als wolle er seine Begeisterung besonders sichtbar machen.
Ich schaue zu Sigrun Liljerot. Mein Magen krampft sich zusammen. Was denkt sie wohl von mir? Besteht ein unsichtbares Band zwischen uns? Ist sie nach wie vor meine Schwägerin? Mag sie mich noch? Oder habe ich nur die Gerüchte bestätigt, die mir vorauseilten? Daß ich schuld war an Mariannes Labilität und daß ich auch Anja in den Tod trieb, indem ich sie übermäßig verehrte, daß ich ein gerissener junger Bursche bin, der sich das Erbe des Hauses im Elvefaret gesichert hat?
Nichts davon entspricht der Wahrheit, denke ich und sehe Mariannes Augen in ihrem Blick. Es besteht kein Zweifel. Die Musik hat auch auf sie gewirkt. Rachmaninow, Chopin und Grieg wußten genau, auf welchen Gefühlssaiten sie spielen konnten.
Ich sehe, daß beide ergriffen sind, sie und ihr Mann.
Ich verspüre einen Stich von verwirrtem Glück.
Ein Raum voller Enthusiasten
Wir bleiben noch lange in dem Raum sitzen, dessen eigentliche Funktion ich nicht kenne. Sie wollen mir etwas zurückgeben. Rektor Sørensen dankt
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