Die Frau im Tal
kann ich nicht zugeben. Ich muß jetzt stark erscheinen. Stärker, als ich bin. Sonst würde ich alles zerstören.
»Ich komme gerne auf einen Sprung mit zu euch«, sage ich.
Erster Abend im Blockhaus
Das Blockhaus steht einen Steinwurf oberhalb des Internatsgebäudes zwischen den Bäumen. Wir gehen durch die blau schimmernde Polarnacht, in einem Licht, das mich seltsamerweise an die schlaflosen Sommernächte der Kindheit im Melumveien erinnert. Ein Blau, das tief ins Gedächtnis drang und sich dort festsetzte.
»Und wenn hinter der Kiefer dort ein Bär steht und auf uns wartet«, sage ich im Spaß.
»Hier oben kann man sich nie sicher sein«, sagt Eirik Kjosen freundlich.
»Und trotzdem wollt ihr hier leben?«
»Ja, vielleicht gerade deshalb«, schaltet sich Sigrun ein.
Das Holzhaus ist größer, als es von außen aussieht. Eine Wohnstube mit einem riesigen, weiß verputzten Kamin. Eine Sofagruppe. Ein altes, schwarzes Schiedmayer-Klavier. Offene Küchenlösung. Ein kleiner Eßtisch. Nur ein geräumiges Schlafzimmer mit einem Doppelbett. Durch die Tür sehe ich, daß es nicht gemacht ist. So führt keiner der beiden ein ruhiges, geordnetes Leben, denke ich. Holzschnitte von Savio an den Wänden. Samen und Rentiere. In einer Ecke hängen die Familienfotos. Bilder von Eirik Kjosens Familie. Zwei gutaussehende Eltern und ein deutlich älterer Bruder. Bilder von Ida Marie Liljerot und ihrem verstorbenen Mann. Keine Bilder von Marianne oder Anja.
»Dir fehlen ein paar Gesichter?« fragt Sigrun ruhig.
»Du liest meine Gedanken?«
»Das ist doch offensichtlich.«
»Von dir hingen auch keine Bilder im Skoog-Haus.«
»Wir sind uns fremd geworden. Das ist nicht weiter verwunderlich. Marianne hat sich schon früh zurückgezogen.Es gibt Geschwister, die sich das ganze Leben lang kaum sehen oder aneinander denken.«
»Hast du noch etwas ›Kaffee‹?« frage ich, als ich sehe, daß Eirik Kjosen zum Kühlschrank geht, um etwas zu trinken zu holen.
»Du hättest mich nie danach fragen sollen!« sagt sie ernst, aber nicht böse. »Begreifst du nicht, wie wichtig das Alkoholverbot auf dem Schulgelände ist?«
»Trotzdem hast du mir den Wodka gebracht.«
»In meinem Beruf fällt es schwer, Moralist zu sein. Ich habe einfach deine Lage respektiert, das verstehst du doch? Marianne würde es nicht gut finden.«
»Laß Marianne lieber aus dem Spiel. Sie war im übrigen keineswegs von der abstinenten Sorte.«
»Das weiß ich natürlich. Aber ihren Job hat sie immer gemacht.«
»Habe ich das etwa nicht?«
Ich sehe, daß sie zögert.
»Doch«, sagt sie. »Du hast schön gespielt. Aber schließlich beschäftigst du dich seit Jahren mit nichts anderem, als schön zu spielen. Du warst nicht so großartig, wie du glaubst. Ich habe alle deine Patzer gehört. Du hattest ein gutmütiges Publikum, das dir vieles durchgehen ließ.«
»Sigrun!« sagt Eirik Kjosen unwillig.
»Laß sie reden«, sage ich.
Sie zuckt die Schultern. »Ich bin nur eine mittelmäßige Amateurin«, sagt sie. »Aber ich kann nicht lügen.«
»Es ist schön, daß du die Wahrheit sagst«, erkläre ich.
Aber sie darf mir gegenüber keine Mutterrolle einnehmen. Ich will nicht ihr Sohn sein. Und in Eirik Kjosens Augen bin ich sicher nur ein Jüngelchen. Ich merke das an der Art, wie er sich an mich wendet, daß das Konzert mehrdie beachtliche Leistung eines Schülers war als die Darbietung eines erwachsenen Künstlers. Er ist es gewöhnt, mit Schülern zu reden, die in meinem Alter sind. Seine Aufgabe ist es, sie in Sport und Musik zu unterrichten. An der Wand neben dem Klavier hängt eine Gitarre. Er singt sicher bekannte und beliebte Songs für diese Jugendlichen, die völlig verrückt sind nach Popmusik. Jetzt macht er Tee für uns. Mir wird schnell klar, daß er für das Praktische im Haushalt zuständig ist, daß er kocht, wenn seine Frau im Distrikt Sør-Varanger herumkurvt, um sich der Kranken anzunehmen, fast immer in Bereitschaft und voller Adrenalin. Und ihr Mann ist gleichfalls voller Energie, redet von früh bis spät mit den Schülern und zeigt ihnen den Weg zum großen, schwierigen, erwachsenen Leben. Teetassen kommen auf den Tisch, ein Schokoladenkuchen, den Eirik aus dem Tiefkühlfach holt und auftaut. Es wird immer später, aber es ist der erste Abend, an dem wir zusammen sind, zu dritt, und vielleicht sind sie neugieriger auf mich, als ich zuerst dachte, vielleicht wollen sie wissen, warum mich Marianne hineinließ in ihr Leben, ihr
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