Die Frau im Tal
gefährlicher ist als ich selbst. Ich habe es schon gestern im Hotel gespürt und heute, als ich vor den Schülern spielte. Ein Sog. Das Bedürfnis, mehr zu trinken. Mehr zu vergessen. Die einen enttäuschen in ihren Erwartungen. Die andern animieren. Der Wunsch, aufs Ganze zu gehen. Grenzen zu überschreiten.
Jetzt sehe ich sie plötzlich im Fenster. Sie zieht sich aus und dreht mir den Rücken zu. Eirik taucht neben ihr auf, umfaßt sie, vergräbt sein Gesicht in ihrer Halsgrube. Er ist noch angezogen. Dann hebt er plötzlich den Kopf und schaut aus dem Fenster. Er starrt mich an, ohne mich zu sehen. Ich stehe mäuschenstill, wage es nicht, mich hinter den Kiefern zu verstecken.
Sie wendet sich ebenfalls um, ohne zu wissen, was ich sehen kann, was ich früher schon gesehen habe in einer anderen Form. Eine Erinnerung, die die Trauer heilen kann.
Dann zieht sie die Gardinen vor.
Als wüßte sie, daß ich da stehe.
Als würde sie bereits merken, daß ich versuche, mich in die Liebe zwischen ihnen zu drängen.
Tanja
Ich lausche noch eine Weile auf die flüsternden Geräusche der Dunkelheit, dann gehe ich leise hinunter zum Internat. Das Pärchen, das am Fluß stand, ist verschwunden. Die Nacht ebenfalls. Der Morgen graut. Ich sehe am Fluß zwei Vögel mit langen Hälsen auffliegen. Als hätten meine entfernten Schritte sie aufgeschreckt. In einem Fenster wird ein Licht gelöscht. Ich nähere mich der Eingangstür des großen, länglichen Gebäudes und sehe dort eine Gestalt stehen, die mich erwartet. Sie ist mit Wollpullover und Jeans bekleidet und hat schwarzes Haar. Sie raucht eine selbstgedrehte Zigarette. Sie reagiert ängstlich, als ich sie wiedererkenne.
»Ich stehe nur hier und rauche«, murmelt sie leise.
»Das wird ja wohl erlaubt sein«, sage ich und will die Tür öffnen. Aber sie hat sich davorgestellt.
»Reist du morgen früh wieder ab?« fragt sie.
»Nein«, sage ich und krame meinen Tabak aus der Jakkettasche. Erst jetzt wird mir bewußt, daß ich seit meinem Restaurantbesuch in Kirkenes meinen Konzert- und Begräbnisanzug anhabe. Er ist zerknittert und schmutzig. Flecken sogar auf dem Revers. Komisch, daß Sigrun nichts gesagt hat.
»Wie meinst du das?« fragt sie.
»Ich werde bleiben. Jedenfalls für einige Zeit.«
»Wie?« sagt sie. »Bleiben? Hier? Bei uns ?«
»Ja. Einfach hierbleiben«, sage ich. »DasKlavierkonzert üben, von dem ihr Ausschnitte gehört habt. Weit weg sein von einem andern Ort. Verstehst du?«
Sie nickt. »Damit kenne ich mich aus. Von welchem Ort willst du weit weg sein?«
»Oslo. Elternhaus. Elvefaret«, sage ich. »Und du?«
»Skiippagurra«, sagt sie.
»Bist du da zu Hause?« sage ich.
Sie nickt. »Aber wir können nicht hier stehenbleiben und reden«, sagt sie. »Der Lehrer, der Dienst hat, könnte uns hören. Wir Schüler dürfen so spät nachts nicht draußen sein. Und ich wohne in einem Viererzimmer.«
»Du kannst mit zu mir kommen«, sage ich.
»Du siehst schrecklich müde aus.«
»Wie heißt du?«
»Tanja«, sagt sie. »Tanja Iversen.«
»Fast wie Anja«, sage ich.
»Ich kenne eine Anja«, sagt sie.
»Ich auch«, sage ich.
Sie öffnet die Tür und läßt mich rein. Wir gehen über den Flur zu meinem Zimmer. Es ist nicht still. Hinter geschlossenen Türen hört man flüsternde Laute. Vereinzeltes Lachen.
»Schlaft ihr nie?« frage ich.
»Fast nie. Wir sind nicht in die Internatsschule von Svanvik gegangen, um zu schlafen. Wir kommen aus kleinen Ortschaften. Und großen Landschaften.«
»Schön ausgedrückt.«
»Wirklich?« Zum erstenmal lächelt sie. »Daheim war ich nicht dafür bekannt, etwas Schönes zu sagen.«
Wir betreten mein Zimmer. Es ist kleiner als die Viererzimmer, aber groß genug für zwei. Ein Bett. Ein Stuhl. Ein Waschbecken. Ich sitze auf dem Bett. Tanja sitzt auf demStuhl. Ich habe ein verzweifeltes Bedürfnis nach Alkohol.
»Skiippagurra«, sage ich.
»Ja.«
Sie zieht ihren Tabak heraus. Tiedemanns rot. Der stärkste. Ich hole Petterøes blau heraus.
»Merkwürdiger Name«, sage ich.
»Auch ein merkwürdiger Ort«, sagt sie. »Ein Punkt, wo die LKW-Fahrer gewöhnlich anhalten, um dann die Richtung zu ändern.«
»Die meisten Orte sind merkwürdig«, sage ich. »Wir erkennen das erst, wenn wir sie verlassen haben.«
Aber darüber will sie nicht reden.
»Wie kann mir die traurige Musik, die du vorhin gespielt hast, soviel Hoffnung geben?« fragt sie und bläst Rauchkringel in das kleine Zimmer.
Ich zucke die
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