Die Frau im Tal
Schultern. »In der Welt der Musik ist es meistens das Leiden, das Glück hervorruft«, sage ich.
»Veralberst du mich?«
Ich schaue sie an. Das plötzliche Lächeln. Ein bißchen wie Anja.
»Etwas geschwollen ausgedrückt. Ich meine nur, daß Rachmaninow unglücklich war, als er dieses Konzert schrieb. Chopin ging es auch nicht so gut. Und Grieg quälte sich ebenfalls. Verstanden?«
»Jeder quält sich mit etwas.«
»Womit quält man sich in Skiippagurra?«
»Mit der Sünde. Die überall lauert. Die Alten mögen das nicht. Sie glauben, wir fangen an zu vögeln, sobald wir vierzehn Jahre alt sind.«
»Ist das so?«
»Bei manchen. Was sollen wir sonst tun?«
Sie schaut mich direkt an.
»Aber niemand spricht darüber«, fährt sie fort. »Darüber redet man nicht. Die meisten von uns, die jung sind, reden eigentlich über gar nichts. Ich gehörte dazu.«
Wir lachen beide. Ich merke, daß mir der Rauch in den Kopf steigt. Ich habe fast nichts gegessen. Das Herz schlägt schneller.
»Was macht man dann?«
»Man … findet Alternativen, wenn du verstehst, was ich meine. Oder man spricht über das Wetter, wenn man schon völlig schwachsinnig ist. Sollen wir übers Wetter reden? Mich kotzt es an, übers Wetter zu reden.«
»Worüber willst du reden?«
»Musik.«
»Gerne.«
»Mit der Musik ist es seltsam«, sagt sie.
»Wie meinst du das?« frage ich vorsichtig. Ich sehe, daß sie angespannt ist, wie sie da sitzt.
Sie wartet lange. Dreht sich eine neue Zigarette. Zündet sie an. Macht ein paar tiefe Züge. Die Augen werden leer. Plötzlich wird mir klar, daß das, was sie raucht, nicht Tiedemanns rot ist.
»Sie hing ganz oben im Baum.«
»Wie bitte?«
»Die Musik ist die verbotene Frucht«, sagt sie. »Noch mehr verboten als alle anderen.«
»Was waren die anderen?«
»Kennst du nicht die Geschichte mit dem Apfel? Hast du nichts von Adam und Eva gehört?«
»Redest du vom Vögeln?«
Sie lächelt. »Davon auch.«Sie erzählt mir von ihrer Kindheit. Während sie redet, wird es draußen vor dem Fenster langsam heller. Ich sehe, daß ich eine Aussicht zum Fluß habe. Auf der anderen Seite ist die Sowjetunion. Tanja spricht den singenden Finnmarkdialekt. Aber ihre Stimme ist monoton. Sie hütet sich vor unnötigen Gefühlen.
»Wir hatten kein Radio«, sagt sie. »Radio war Sünde. Radio war ein Werk des Teufels. Mein ältester Bruder hat sich trotzdem ein Radio beschafft. Wir hörten immer nachts. Vielleicht habe ich mir deshalb das Schlafen abgewöhnt.«
»Was habt ihr gehört?«
»Beethoven. Sibelius. Und den, den du heute abend gespielt hast. Ratsch …?«
»Rachmaninow.«
»Ja genau. Wir fanden russische Sender. Auf den norwegischen gab es nur Fischereimeldungen.«
»Du hast klassische Musik gehört?«
»Besonders Klaviermusik. Ich liebe den Ton des Pianos.«
Sie wirft ebenfalls einen Blick zum Fenster. Bald ist helllichter Tag.
»Willst du mir das Klavierspielen beibringen?« fragt sie plötzlich. In ihren Augen ist etwas zugleich Bittendes und Berechnendes.
»Gerne«, sage ich.
»Glaubst du, ich schaffe das?« sagt sie. »Glaubst du, daß ich eines Tages solche Melodien, wie du sie heute abend gespielt hast, spielen kann?«
»Wenn du übst, wirst du es schaffen«, sage ich. »Jeder kann das schaffen.«
»Wie nett, daß du das sagst«, sagt sie befriedigt.Ich weiß nicht, wie lange wir so saßen. Wir starrten beide aus dem Fenster. Hin zum kalten Krieg. Hin zur Sonne, die sich noch ein paar Tage am Himmel zeigen wird.
»Macht es einen nicht verrückt, mit diesen Gegensätzen zu leben?« sage ich. »Übergangslos vom Licht zur Dunkelheit?«
»Die Polarnacht kommt immer pünktlich«, sagt sie.
Jetzt merke ich, wie high sie ist. Sie muß schon viel gekifft haben.
»Du mußt schlafen gehen«, sage ich.
»Was ist mit Sigrun?« sagt sie.
»Was meinst du?«
»Daß sich jeder in sie verliebt. Obwohl sie über dreißig ist. Jedesmal, wenn sie sich in der Schule zeigt, müssen die Jungs aufs Klo. Das ist fast lächerlich. Sie erfinden Krankheiten, um von ihr untersucht zu werden. Sie ist ja unsere Ärztin.«
»Manche Frauen sind so«, sage ich. »Ihre Schwester war auch so. Und ihre Nichte.«
» War ? Sind sie tot?«
»Ja.«
»Wie schrecklich.«
»Das ist eine lange Geschichte. Wir reden ein andermal darüber.«
»Wie du willst.«
»Du glaubst, ich bin verliebt in Sigrun?«
»Ja.«
»Wie kommst du darauf?«
»Die Blicke, die du ihr zugeworfen hast.«
»
Blicke
?«
»Ja«, sagt
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