Die Frau im Tal
Ich höre demNjål Berger Trio zu, sehne mich aber nach der Musik vom Notenblatt, die ich mit Sigrun spiele. Das verwirrt mich. »Halbe Musik«, wiederholt Rebecca.
Ich nehme ihre Hand. Sie spürt mich. Ich merke, wie es mich rührt, daß sie so nahe ist. Ich habe sie vermißt, ohne daß es mir bewußt gewesen wäre.
Das Trio auf dem Podium spielt weiter. Jeder Einfall versetzt die drei in ekstatische Begeisterung. Njål Berger fängt an, die unstrukturierten Melodien, die er spielt, mitzusummen. Das klingt wie Vogelgeschrei. Oder als würde er sich selbst befriedigen. Das mag ich nicht. Diese gutturalen Laute haben etwas Peinliches. Als würde er die Musik eher zufällig entdecken, ohne zu wissen, wie er sie vermitteln soll. Als würde er daheim in seinem Kinderzimmer sitzen und nicht merken, daß ihm andere zuhören.
»Selbstverliebt«, flüstert mir Rebecca Frost ins Ohr.
»Vielleicht«, flüstere ich zurück. Ich bin unsicher, bin immer unsicher gewesen. Ich beobachte das Publikum in dem halbleeren Lokal. Was haben sie erwartet? Was berührt sie an dieser unstrukturierten Musik mit all ihren unvorhersehbaren Einfällen? Vielleicht spielt Njål Berger ganz bewußt so. Dann wäre es noch schlimmer, ihm zuzuhören. Exhibitionismus hat wenig mit Musik zu tun, denke ich. Aber Gabriel Holst hat sich jetzt mit seinem Baß ganz zurückgelehnt. Er läßt sich von den Einfällen der beiden andern nicht stören. Er ist tief drinnen in gregorianischen Tonreihen.
Da entsteht die Faszination. Gerade das Nicht-Zusammenspielen wird zu einem eigenen Ausdruck. Die Musik findet ihre Form gerade durch die fehlende Kommunikation zwischen den Interpreten. Urban Schiødt ist mit seinen Becken tief in Asien. Njål Berger versucht, mehr hip zu sein als die hippesten Pianisten von New York. UndGabriel Holst ist tief im Mittelalter. Das ist absurd und zugleich ganz selbstverständlich. Der Druck steigt. Die Musik findet ihre Form gerade dadurch, daß die drei Musiker jeder einen eigenen Weg zu gehen versuchen.
Es geschieht am Ende des zweiten Satzes.
Es entsteht eine Pause. Die Musiker wissen nicht, wohin sie wollen.
Da fängt Gabriel Holst an, eine Melodie zu spielen. Herrgott, denke ich. Das ist ja »Elven«. Die einzige Melodie, die ich bisher komponiert habe. Gabriel spielt sie einfühlsam und respektvoll. Die anderen Musiker nehmen sie behutsam auf. Sigrun lehnt sich über den Tisch zu mir:
»Das ist doch deine Melodie? Die du bei Mariannes Begräbnis gespielt hast?«
Ich nicke. Habe nichts zu sagen, während ich mich selbst wiedererkenne. Meine tastenden Töne. Und das Gefühl, daß es lang vorbei ist. Trotzdem höre ich, wie überraschend intensiv die einfache Melodie wirkt, wenn dieses Trio sie spielt.
Auch Sigrun ist erstaunt. Aber ich schaue sie nicht an. Rebecca drückt meine Hand und flüstert:
»Wie schön diese Melodie ist.«
Gabriel Holst bringt »Elven« in die Öffentlichkeit. Ich spüre, daß ich genügend Rotwein getrunken habe. Ich höre nur mit halbem Ohr zu, was er sagt. Er spricht von meinem Debüt. Er spricht von Prokofjew. Er spricht von Löffelködern. Er steht auf dem Podium und fragt mich freundlich, ob ich nicht mit ihnen zusammen etwas spielen wolle?
Obwohl ich keine Lust habe, kann ich nicht nein sagen. Ich schaue zu Tanja hinüber, die erwartungsvoll dasitzt.Bald ist sie an der Reihe. Aber zuerst ich. Ich habe eine Idee. Eine Melodielinie, die sich von A-Dur zu F-Dur zu d-Moll und a-Moll entwickelt. Damit werde ich improvisieren. Ich steige hinauf aufs Podium. Njål Berger ist eindeutig betrunken und drückt mich an sich.
»Danke für das Vertrauen«, sage ich.
»Das klappt schon«, flüstert er mir ins Ohr. Ich sehe, daß er froh ist, daß das Konzert vorbei ist. Jetzt kann er sich hinsetzen und sich den Rest des Abends seinem Rausch hingeben. Er muß nichts mehr leisten.
Dafür sitze ich nun vor den Klaviertasten. Urban Schiødt lächelt mir aufmunternd zu. Gabriel Holst ebenfalls. Sie warten, daß ich anfange. Sie brauchen einen Ton, einen Akkord.
Ich schlage einen C-Dur-Dreiklang an.
Okay. Gabriel nickt. C-Dur ist für vieles brauchbar. Gabriel Holst spielt relativ frei um den Akkord. Urban Schiødt schlägt lose auf das Becken. Halbe Musik, denke ich. Ich muß vermeiden, in die Falle zu gehen. Aber was soll ich spielen? Ich habe zwölf Töne zur Verfügung. Zwölf Töne in verschiedenen Höhen und Tiefen. Zusammen sieben Tonleitern. Achtundachtzig Klaviertasten. Ich spiele eine
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