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Die Frau im Tal

Die Frau im Tal

Titel: Die Frau im Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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Quinte, versuche zu verzieren, werde aber unsicher, als eine plötzliche Dissonanz mir die Möglichkeit nimmt, die Melodie, die ich im Kopf habe, einzubringen. Aber Sigrun hat mich gelehrt, zuzuhören. Plötzlich höre ich, daß Gabriel ein Motiv anbietet, das ich leicht im Diskant weiterführen kann. Trotzdem finde ich es schwieriger, frei zu spielen, als ich dachte. Als sei auch die Freiheit etwas, das man lernen muß. Die Fähigkeit zur Wahl. Der Mut, hinaus ins Unbekannte zu gehen. Besteht darin mein Problem, denke ich, während ich spiele – daß ich mich nicht lösen kann, daß ich ständig versuche, etwas wiederzugeben, wasverloren ist? Ich habe Tanjas Begabung für das Unmittelbare nicht, denke ich. All diese Stunden allein am Klavier haben mich geformt, haben mich zu einem Grübler gemacht, zu einer Person, die nichts schnell machen kann, die nicht in Sekunden entscheiden kann. Alles, was ich mache, ist langsam.
    Und die Ziele, die ich verfolge, liegen weit vor mir.
    Oder hinter mir, dort, wo bereits etwas geschehen ist.

    Nach wenigen Minuten ist die Improvisation vorbei. Die Leute klatschen wohlwollend. Gunnar Høegh ruft sogar Bravo, aber dazu besteht kein Grund. Nichts von dem, was ich eben präsentierte, war genial. Ich wiederhole meine Gedanken für Gabriel.
    »Freiheit ist etwas, was man lernen muß«, sage ich beim Verlassen des Podiums entschuldigend.
    Er klopft mir auf die Schultern. »Du und deine klassische Musik mit dem Zwang zur Perfektion. Aber Perfektion ist nicht unsere Sache. Denke lieber: Jetzt habe ich das Beste gegeben, was ich heute leisten konnte. An einem andern Tag bin ich vielleicht besser, vielleicht schlechter.«
    »Manche sind dazu geschaffen«, sage ich. »Manchen wurde die Freiheit in die Wiege gelegt, aber sie merken es erst, wenn es fast zu spät ist.«
    »An wen denkst du?« fragt er.
    »An Tanja Iversen«, sage ich. »Sie sollte jetzt ihre Chance bekommen.«
Somewhere over the Rainbow
    Gabriel Holst steht wieder auf dem Podium und späht in den Saal, winkt Njål Berger, seine Weinflasche zu verlassen und zum Klavier zu kommen.
    »Da sitzt eine Sängerin im Saal«, sagt Gabriel. »Aksel hat sie entdeckt. Sie heißt Tanja Iversen. Sie ist eine außergewöhnliche Begabung. Tanja, möchtest du zu uns aufs Podium kommen?«
    Tanja befreit sich aus dem unerbittlich zärtlichen Arm des Milchbarts, der neben ihr sitzt. Ein rascher Kuß, und sie hat entschieden, ohne ihn aufzutreten. Sie hat sich entsprechend gekleidet, ganz in Schwarz, sie weiß, was die Situation verlangt. Sie ist auf diesen Augenblick vorbereitet, viel eindeutiger, als ich es war.
    Sie steigt hinauf auf das Podium, und ich beobachte Sigrun und Rebecca, die zuerst das Mädchen und dann mich forschend mustern, als wollten sie herausfinden, welche Art von Begeisterung mich mit Tanja verbindet. Ja, könnte ich ihnen antworten, ich bin begeistert von ihr, aber nicht so, wie ihr vielleicht glaubt. Ich bin stolz wie ein Bruder, als ich sie auf dem Podium stehen sehe, als ich sehe, wie es zwischen ihr und Gabriel funkt. Ich weiß, daß sie bereits ihre Form gefunden hat, im Gegensatz zu mir, obwohl ich nichts anderes tue, als meine Form zu finden. Das ist eigentlich ungerecht, aber so ist das Leben. Tanja Iversen hat sich emanzipiert. Die schlimme Zeit liegt hinter ihr. Jetzt geht sie zum Mikrophon, und alle im Saal ahnen, daß etwas Großes bevorsteht. Tanja, eine Schülerin der Internatsschule von Svanvik, von der noch niemand etwas gehört hat. Sie steht auf dem Podium des Jazzclubs und zittert vor Aufregung. Gabriel Holst und die beiden andern Musiker beobachten sie gespannt. Wer fängt an?Ich habe auf einmal Angst. Habe ich ihr zuviel zugetraut? Wenn sie heute abend nicht überzeugt, wird sie diese Niederlage in die Frustration zurückwerfen.
    Rebecca setzt sich neben mich. Sigrun verfolgt genau, was geschieht. Sie sieht, daß Rebecca meine Hand nimmt. Sie sieht, daß ich es zulasse.
    Dann singt Tanja Iversen.
    Sie singt »Somewhere over the Rainbow«. Ich wußte gar nicht, daß sie den Song kennt. Aber sie singt die ersten Takte unbegleitet. Die Intonation ist sicher. Die Stimme im Mezzosopran. Ihr Englisch ist schlecht. Aber als die andern Musiker diskret und vorsichtig einfallen, merkt man, was sie kann.
    Das Zusammenspiel in dieser Form dauert nur die erste Strophe und den Refrain an. Unmittelbar danach löst sie sich, nimmt den Text beim Wort. Jetzt will auch sie über den Regenbogen, und ich erkenne die

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