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Die Frau im Tal

Die Frau im Tal

Titel: Die Frau im Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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kein vollwertiger Liebhaber bin. Aber mir erzählt sie Dinge, die sie Eirik nicht erzählen kann. Sie hat mich zu ihrem Vertrauten gemacht, als sie von ihrem Zusammenleben mit ihm erzählte. Und Eirik ist ahnungslos. Er ist der Gehörnte. Jedesmal, wenn ich Sigrun treffe, denke ich, daß sie denkt: »Mit diesem jungen Kerl könnte ich vielleicht Kinder bekommen.« Und ich denke, daß sie denkt: »Dieser junge Kerl war mit meiner Schwester verheiratet.« Ich bilde mir nicht ein, daß sie mich so, wie ich bin, für attraktiv hält. Ich weiß, welche Rolle ich spiele. Ich fühle mich wie der schwarze Sklave mit den weitgeöffneten Augen hinter Manets nackter »Olympia«. Marianne war die wichtigste Person in ihrem Leben und die wichtigeste negative Kraft. Ich bin wie ein Abgesandter des Feindes, obwohl Marianne tot ist. Und gleichzeitig kann dieser Abgesandte Klavier spielen, kann sie aufmuntern und in ihr eine Selbstsicherheit wecken, die sie nicht für möglich gehalten hatte.
    All diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, bevor ich meine Antwort formuliere:
    »Ich kannte ja Sigrun früher nicht«, sage ich. »Wenn wir zusammen spielen, ist sie hundertprozentig auf die Musik konzentriert.«
    »Ja ja, ich weiß«, sagt Eirik ungeduldig. »Aber wenn es wie früher wäre, würde sie nicht so geheimnisvoll tun. Da würde sie mit dir ein Konzert im Allzweckraum geben. Verstehst du?«
    Ich hasse dieses Gespräch, fahre aber fort:
    »Ihr ist der Gedanke unangenehm, daß ich mit Marianne zusammen war«, sage ich. »Wir haben beide ein ungeklärtes Verhältnis zur Vergangenheit. Vielleicht können wir deshalb zusammen spielen.«
    Er antwortet nicht auf das, was ich sage. Ich habe das Gefühl, daß er uns entlarvt hat, aber es nicht sagen will. Fährt er deshalb so schnell? Eirik, der stocknüchtern ist, scheint mehr aus dem Gleichgewicht zu sein als wir alle.
    Wir fahren schweigend weiter.
    »Eines Tages müssen wir über all das reden«, sagt er, als wir die Höhe 96 passieren.
Der letzte Traum
    Die vertrauten Stunden mit Sigrun gibt es kaum noch. Sie arbeitet mehr als je zuvor. Doch eines Tages sind wir beide im Blockhaus und spielen wieder die A-Dur-Sonate von Brahms. Und diesmal reißt keine Saite. Es entsteht eine solche Intensität zwischen uns, als würden wir die Musik zum erstenmal entdecken. Ich begreife nicht, wie sie das macht. Wann übt sie? Sie sieht müde aus, obwohl sie nicht mehr soviel Wodka trinkt wie früher. Nach dem Spielen nimmt sie nur einen Schluck, während ich fünf, sechs, sieben brauche. Wir sitzen nebeneinander und reden.
    »Es ist Brahms, der uns verbindet«, sage ich traurig.
    »Ich habe die gesamte Kammermusik von Brahms. Das ist eine wahre Entdeckungsreise. Was ich alles nicht kannte! Das Trio in H-Dur, die Sextette, ganz zu schweigen von den Quartetten.«
    Ich nicke. »Fängt man erst einmal an, Brahms zu hören, muß man den Becher bis zur Neige leeren. Vielleicht war es kein Zufall, daß ich es ablehnte, das B-Dur-Konzertvon Brahms zu spielen, daß ich statt dessen Rachmaninow wählte. Vielleicht war Brahms für uns beide bestimmt?«
    »Was verband dich und Marianne?« fragt sie.
    »Joni Mitchell«, sage ich.
    Sie nickt. »Aber Marianne hat die Lieder nicht gesungen?«
    »Nein.«
    »Sie hatte nur die Schallplatten?«
    »Ja.«
    Ich möchte ihren Gedankengang stoppen. Ich streichle sie. Küsse sie. Sie läßt es zu, ist aber zurückhaltend. Ich beginne unser übliches Ritual. Es ist nicht wie früher. Marianne, denke ich. Sie steht zwischen uns, von Anfang an.
    Sigrun liegt steif auf der Couch.

    Sie küßt mich, als ich gehe, versichert, daß alles in Ordnung sei, daß sie nur müde sei. Sie habe zuviel gearbeitet in den letzten Wochen.
    »Wir dürfen nie aufhören, zusammen zu spielen«, sagt sie.
    »Nein«, sage ich.

    Wieder im Internat, lege ich mich mit einer Flasche Wodka aufs Bett. Doch schon nach wenigen Schlucken schlafe ich ein. Mir träumt, daß ich im Skoog-Haus bin. Ich glaubte, allein zu sein, höre aber plötzlich Geräusche. Marianne kommt die Treppe vom Keller herauf, Anja direkt hinter ihr. Beide haben sie meine Lieblingssachen an. Anja den lila Pullover, die schwarze Hose und die Filzpantinen. Marianne den grünen Anorak, die abgewetzte Jeans und die braunen, altmodischen Gummistiefel. Obwohl Marianne für draußen angezogen ist, geht sie ins Wohnzimmer und setzt sich neben mich auf die Couch, während Anja stillzum Flügel geht, sich setzt und gedämpft zu spielen beginnt.

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