Die Frau im Tal
nur Mediziner untereinander verstehen. Aber plötzlich reden sie über Musik. Sie reden über das H-Dur-Trio von Brahms, das sie hätten spielen können, wenn Zeit gewesen wäre. In Kirkenes hätte man sicher einen guten Cellisten gefunden. Der Gedanke, daß Rebecca immer noch Klavier spielt, daß sie Mitglied in einem weltweiten Netzwerk von Kammermusikern ist, rührt mich. Jetzt benutzt sie den diskreten und zugleich sezierenden Blick, mit dem sich Frauen einschätzen, wenn sie herausfinden wollen, wer mit wem befreundet beziehungsweise verfeindet ist, wer geliebt und wer gehaßt werden muß. Sigrun bemerkt nicht, daß in diesem Moment die Scheinwerfer auf sie gerichtet sind. Rebecca sitzt im Saal, und der Saal ist voll besetzt. Rebecca ist alle Zuschauer zugleich. Sie sitzt auf dem Balkon und im Parkett, sie mustert Sigrun von allen Seiten und versucht herauszufinden, warum das Gerücht, daß ausgerechnet diese Distriktsärztin und Amateurmusikerin »Die Frau im Tal« genannt wird, bis nach Oslo dringt.
Und ich merke, daß es mich verwirrt, sie zusammen zu sehen, so wie es mich verwirrte, wie Rebecca mitMarianne sprach, damals, als ich dort einzog. Ich spüre, daß ich beiden so nahe gewesen bin. Und ich fühle mich schuldig. Ich habe mich zu keiner korrekt verhalten. Ich habe mich ihnen aufgedrängt, habe sie auf meine halbherzige Weise verführt, ließ es halbherzig bleiben, wie auch jetzt mit Sigrun, die mir die Tür geöffnet hat, mich in ihre Wohnung eingeladen hat. Rachsüchtig und unsicher, habe ich es vorgezogen, nach Svanvik in die Schule zurückzufahren, mit Eirik im Auto Unverbindlichkeiten auszutauschen, mit jedem Wort zu lügen, weil ich nicht bereit bin, ihm zu erzählen, was ich mit seiner Frau mache, liegend, sitzend, stehend sie befummele, ihre Leidenschaft stehle, ohne mehr zu fordern, ja ohne mehr zu wollen.
Sie umarmen sich, die beiden Frauen. Ich habe nicht mitbekommen, worüber sie sich unterhielten, war zu tief in meine Gedanken versunken. Eirik schaut auf die Uhr. Bereits nach Mitternacht.
»Ich glaube, ich muß los«, sagt er mit einem Blick auf mich. »Morgen ist auch ein Tag.«
»Ja«, sage ich. »Fahren wir.«
Rebecca, Sigrun und Gunnar bleiben stehen. Ich hätte es anders machen können. Alles wäre anders geworden. Aber ich mache es nicht. Nicht, weil ich nicht mag, sondern weil ich merke, daß Eirik angespannt ist, daß er offenbar etwas mitbekommen hat. Es ist zu spät, sich umzuentscheiden. Das wäre zu verdächtig.
Rebecca hat mich in eine Ecke gezogen, küßt mich demonstrativ auf den Mund und strahlt mich an mit ihren blauen Augen.
»Mein dummer Junge. Paß auf dich auf. Es ist schlimm genug, daß ich allein ins Hotelzimmer gehen muß, aber was tut man nicht, um der Welt eine weitere Version vonRachmaninows zweitem Klavierkonzert zu sichern. Versprich mir, morgen früh aufzustehen. Und acht Stunden üben, mindestens.«
Sie weiß, wie sie mich ärgern kann. Zu allem Überfluß steckt sie vor aller Augen ihre Hände tief in meine Taschen.
»Es reicht jetzt«, murmele ich und ziehe ihre Hände wieder heraus.
Ich wage erst wieder, Sigrun anzuschauen, als wir alle auf der Straße stehen. Sie lacht und redet mit Gunnar Høegh. Sie hat einen fremden Zug im Gesicht.
Mit Eirik Kjosen in Gunnar Høegs Auto
Ich sitze neben Eirik Kjosen, der sich Gunnar Høeghs BMW geliehen hat. Der Lada der Distriktsärztin blieb vor Sigruns Wohnung stehen. Es riecht schwach nach Zigarre und Herrenparfüm, das Armaturenbrett ist aus Teakholz. Ich fühle mich unwohl.
Auch Eirik wirkt düster und nachdenklich. Wir fahren viele Kilometer, ohne etwas zu sagen.
»Ist irgend etwas mit dir?« frage ich schließlich. »Ich dachte, du würdest nach so einem Abend glücklich sein. Zu erleben, wie eine deiner Schülerinnen buchstäblich aufblüht?«
»Ich denke gar nicht an Tanja«, sagt er, während ich mir eine Zigarette anzünde und die rote Glut in dem dunklen Wagen anstarre. Im grünen Licht des Armaturenbretts fühle ich mich fast wie in einem kleinen Flugzeug. Es schneit etwas. Große Flocken legen sich auf die Straße. Eirik fährt schneller als gewöhnlich.
»Ist es Sigrun?«
Er nickt. »Sie ist zur Zeit nicht sie selber. Gunnar hat recht. Sie schlägt sich mit etwas herum. Ich müßte etwas tun, aber was? Sie schiebt es auf ihre Arbeit. Sie ist scheinbar wie immer. Trotzdem stimmt etwas nicht. Merkst du nichts, wenn du mit ihr spielst?«
Der Liebhaber weiß mehr, denke ich. Auch wenn ich
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