Die Frau im Tal
Strophen wieder, die sie sang, als sie auf meinem Schoß saß. Sie singt mit einer solchen Sehnsucht, daß mich Rebecca schmerzhaft in die Hautfalte zwischen Daumen und Zeigefinger kneift.
»Einfach Klasse, diese Frau!« flüstert sie.
Es ist die Sehnsucht, Grenzen überschreiten zu wollen, und das kennen Rebecca und ich nur zu gut, ich aber starre Sigrun an, als Tanja zurückfindet zu diesen Tönen, die mir durch Mark und Bein gehen. Und sie starrt zurück, als verstünde sie, warum ich sie in diesem Augenblick anschaue. Als ginge es um eine Befreiung, nach der wir uns beide sehnen und die Tanja gefunden hat. Eine Befreiung, die eine völlig neue Landschaft entstehen läßt. Tanja Iversen hat diese Kraft. Sie überzeugt uns mit der Sicherheit ihrer Wahl. Jeder einzelne Ton findet seine Form und kommt an. Und ich schaue zu Sigrun und empfinde einschmerzhaftes Stechen. Ich sehe uns von außen, wie wir im Blockhaus Brahms spielen, sie stehend mit der Geige und ich sitzend am Klavier. Wir haben diesen Rahmen akzeptiert. Es sind andere, die für uns gefühlt haben. Unser größter Wunsch ist es, diese Gefühle lebendig werden zu lassen. Und während wir alles dransetzen, diese Gefühle so korrekt wie möglich im Sinne des Komponisten wiederzugeben, verzichten wir auf das lebendige Leben, sind klein und zweifelnd bezogen auf das, was sich tatsächlich zwischen uns abspielt. Daran denke ich, während Rebecca meine Hand wie in einem Schraubstock festhält und ich Blicke mit Sigrun wechsle, die niemand bemerkt. Da verstehe ich, daß wir uns trotzdem nähergekommen sind. Sie weiß, daß etwas geschehen ist, daß nichts mehr sein wird wie vorher.
Und irgendwo über dem Regenbogen ist ein Platz für uns alle. Dorthin lädt uns Tanja Iversen ein. Sie singt sich direkt hinauf zum Himmel und noch höher, wo es keine Zurückhaltung mehr gibt, wo alles selbstverständlich wird.
Das Njål Berger Trio begleitet sie ein Stück auf diesem Weg.
Intermezzo im Grenzland
Tanja Iversen und Gabriel Holst sind ins Hotel gefahren. Der Milchbart ist etwas frustriert abgezogen zu seiner Oma. Rebecca Frost hat mich, während die Bedienungen die Tische abräumen, in eine Ecke gedrängt. Mit beiden Händen hält sie meinen Kopf fest und redet auf mich ein:
»Du darfst nicht für immer und ewig hier oben bleiben«, sagt sie. »Kapierst du das?«
»Ich übe Rachmaninows zweite Sinfonie«, sage ich abwehrend.
»Kein Pianist deines Formats braucht einen ganzen Winter in der Wildnis, um dieses Konzert einzustudieren. Das Ganze hat nichts mit Rachmaninow zu tun.«
»Vielleicht irrst du dich«, sage ich vorsichtig und bin glücklich über die kleinste Zärtlichkeit, über die warmen Hände an meinen Wangen. Die klaren blauen Augen, die man auch im Halbdunkel sieht. »Vielleicht muß man Umwege gehen, um die einfachsten Dinge zu verstehen. Wußtest du zum Beispiel, daß Rachmaninow seine Konzerte so spielte, wie sie heute kein Pianist, der auf sich hält, mehr spielen würde?«
»Nein, das wußte ich nicht«, sagt Rebecca und läßt ihre Hände sinken. »Was willst du mir damit sagen?«
»Daß er es anders wollte. Daß wir nicht einmal die Toten respektieren.«
»Das ist Schwachsinn. Ist dir das klar?«
»Nein«, sage ich. »Das ist ernst. Ich habe den Atem Rußlands gespürt. Ich habe etwas empfunden, was ich nie verstanden hätte, wenn ich zu Hause in Oslo geblieben wäre.«
Sie schaut mich an. Traurig. Aber auch eindringlich, als würde sie verstehen.
»Du wählst immer den schwierigsten Weg«, sagt sie.
»Nein, den leichtesten«, sage ich.
Sie schüttelt den Kopf. »Vom ersten Moment an hast du dich für die schwierigsten Menschen entschieden. Anja, an der du beinahe zugrunde gegangen bist. Dann Marianne, noch hoffnungsloser. Jetzt Sigrun. Ich sehe doch die Ausstrahlung, die sie hat. Jede Frau sieht das. Ihre Männerträumen davon, eines Tages zu ihr zu gehören, das glückliche Paar oben auf der Hochzeitstorte zu sein. Aber sie ist kompliziert. Genauso kompliziert wie ihre Schwester und ihre Nichte. Sie raubt dir den Schlaf. Du kannst nicht mehr klar sehen. Ich kann nichts für dich tun. Manchmal ist es grausam, Freunde zu haben.«
Die anderen kommen zu uns. Ich merke, daß Sigrun getrunken hat. Der Glanz in ihren Augen. Sie hat erst morgen nachmittag Dienst. Sie könnte zusammen mit Eirik heimfahren und die Nacht im Blockhaus verbringen. Das versetzt mir einen Stich. Sigrun und Rebecca reden miteinander in der internen Sprache, die
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