Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
gehört. Mutter, wo seid Ihr? Wer hatte das gerade gesagt?
Der offene Fensterflügel schlug krachend zu. Anouk schrie auf. Sie beeilte sich, den Riegel einzuhaken, und da sah sie es. Das kleine Mädchen! Es stand an genau der gleichen Stelle wie gestern. Es war zu dunkel, um sein Gesicht erkennen zu können, doch Anouk hatte keinen Zweifel, dass es sich um ein und dasselbe Kind handelte. Die verwilderten Brombeerbüsche wogten im aufkommenden Sturmwind wie Seetang in der Brandung. Anouk zögerte keine Sekunde. Sie riss die Nachttischschublade auf, schnappte sich den Bergkristall mit der Kordel, den sie bei den Brombeerbüschen gefunden hatte, nachdem ihr das kleine Mädchen zuletzt erschienen war, und hetzte die Treppe hinunter. Als sie die Haustür öffnete, schlug sie ihr der Wind aus der Hand und mit voller Wucht gegen den Blumentopf neben dem Eingang, der mit einem Scheppern zerbrach. Anouk rannte ums Haus herum. Ihre von der Rettungsaktion noch immer lädierten Muskeln protestierten schmerzhaft gegen den Sprint.
»Lass sie noch da sein, bitte, lass sie noch da sein!«, betete sie halblaut vor sich hin.
Was Anouk kaum zu hoffen gewagt hatte, trat ein. Die Kleine stand immer noch neben den Brombeeren. Sie blickte Anouk verwundert an, als diese um die Ecke gesaust kam, als wäre ihr der Höllenhund höchstpersönlich auf den Fersen.
Anouk stoppte und blieb keuchend stehen. Sie wusste auf einmal nicht, was sie zu dem Mädchen sagen sollte … und in welcher Sprache.
» Tu cherches ta Maman? Suchst du deine Mutter?«, versuchte sie es in beiden Sprachen, und die Kleine nickte. »Verstehst du mich, wenn ich Deutsch rede?«
Das Mädchen nickte abermals, und Anouk atmete auf.
»Wo ist meine Mama?«, fragte es. »Ich kann sie nicht finden.«
»Tja, also, ich weiß nicht«, erwiderte Anouk und sah sich suchend um. »Bist du weggelaufen? Wo wohnst du denn? Und wie heißt du?«
Das Kind schaute Anouk aufmerksam an, lächelte, sagte aber kein Wort. Anouk trat einen Schritt näher. Das Mädchen fixierte plötzlich einen Punkt hinter Anouks Schulter. Es hörte auf zu lächeln, riss seine Augen angstvoll auf und fing an zu zittern.
Anouk streckte die Hand aus, um es zu beruhigen.
»Nein, nein, hab keine Angst. Ich will dir nichts tun. Schau, ich habe deinen Anhänger gefunden. Das ist doch deiner, oder nicht?« Sie hielt ihm den Bergkristall hin.
»Mit wem redest du da? Sag mir sofort, wen du da siehst!« Zeitgleich mit diesen Worten wurde Anouk grob am Arm gepackt. Sie drehte sich zu der Stimme um. Hinter ihr stand der Kurator. Sein Gesicht war verzerrt. Als ein Blitz für einen Moment die Umgebung erhellte, sah sie außerdem, dass er eine Zeichnung auf der Stirn trug, die sie an stilisierte Federn erinnerte.
»Anouk, gib endlich Antwort!«, schrie der Kurator wütend, packte sie an den Schultern und schüttelte sie heftig hin und her.
»Lassen Sie mich gefälligst los! Was soll das denn?«, schrie sie zurück. »Sind Sie irre geworden?«
»Was geht hier vor?«
Anouk und der Kurator schnellten beide gleichzeitig herum.
»Max, Gott sei Dank!«, stieß Anouk erleichtert hervor.
»Herr Doktor, wie schön, Sie wiederzusehen«, begrüßte Rufli ihn seinerseits, gab Anouk frei und lächelte. »Ich kam grad vorbei, sah noch Licht bei Valerie und wollte auf einen Sprung hereinschauen. Doch anscheinend schläft sie schon. Dann werde ich mal wieder. Anouk, Herr Doktor.«
Er deutete eine Verbeugung an und entfernte sich dann gemessenen Schrittes.
Anouk war völlig perplex. Sie konnte kaum fassen, wie schnell sich Rufli vom Berserker in den charmanten Professor zurückverwandelt hatte. Doktor Jekyll und Mister Hyde waren nichts dagegen.
»Ich hörte dich schreien und habe gesehen, wie dich Rufli geschüttelt hat. Was ist denn passiert?«, fragte Max besorgt und sah dem Professor hinterher.
Das Mädchen! Anouk wirbelte herum. Der Platz vor den Brombeerbüschen war leer.
»Können wir zuerst reingehen?« Anouks Beine drohten unter ihr einzuknicken, und sie fing am ganzen Körper an zu zittern. »Ich glaube, ich muss mich übergeben.«
»Also noch mal der Reihe nach.« Max saß auf der Fensterbank und verschränkte die Arme vor der Brust. Anouk lag im Bett, eine Tasse Tee in den Händen, und versuchte, des Zitterns Herr zu werden. »Du hast ein Kind gesehen. Und mir nichts davon gesagt.« Sie nickte schuldbewusst, und er knurrte etwas Unverständliches. »Und eben ist es wieder aufgetaucht. Es spricht Französisch,
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