Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Was meinen Sie? Er soll ja alle Dokumente sammeln, die mit dem Seetal zusammenhängen.« Der Geistliche legte die Stirn in Falten. »Wieso kam mir diese Idee eigentlich nicht schon früher? Ich werde langsam alt.« Er seufzte und wandte sich wieder den Registraturen zu.
Anouk schnaubte. Das fehlte gerade noch, dass der Kurator diese Dokumente in die Hände bekam.
Die Blätter des schweren Buches waren in drei Spalten unterteilt. In der linken stand das Datum, in der mittleren das Ereignis, und rechts außen war Platz für Notizen. Anouk konnte die Schrift nicht entziffern. Die großzügigen Unter- und Oberlängen der einzelnen Buchstaben verwirrten sie, nur die Jahreszahlen bereiteten ihr keine Probleme.
Der Geistliche blätterte vorsichtig die Seiten um, bis die Jahreszahl 1752 auftauchte.
»Etwas früher«, flüsterte Anouk, und der Pfarrer nickte und blätterte bis zur Jahreszahl 1746 weiter. Sie hielt die Luft an.
»Also, von einem Rufli steht hier nichts«, sagte der Priester und drehte sich um.
»Und von jemandem mit Namen Morlot?« Anouk unterdrückte den Wunsch, den Pfarrer beiseitezuschieben und selbst noch einmal durch die Zahlenreihen und Einträge zu gehen.
»Morlot, Morlot …« Der Geistliche beugte sich tiefer über den Folianten. »Auch nicht, tut mir leid.«
Anouk atmete tief durch. Schon wieder eine Sackgasse.
»Kann es auch früher oder später gewesen sein?«, fragte der Pfarrer und schob sich die Brille auf die Stirn.
Anouk zuckte leicht mit den Schultern. 1746 hatte sie zusammengesetzt. Aber vielleicht hatte sie sich ja auch in der Reihenfolge der Zahlen getäuscht? Könnte es auch 1764 geheißen haben?
»Sind auch Einträge aus dem Jahr 1764 vorhanden?«
Der Pfarrer schlug das Buch im hinteren Teil auf.
»Ein paar«, sagte er, »aber es kommen wiederum keine Morlots in ihnen vor.«
Anouk ließ den Kopf hängen. Es wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. Max legte seinen Arm um ihre Schultern und küsste sie auf die Wange.
»Einen Versuch war es allemal wert«, meinte er tröstend. »Man kann eben nicht immer …«
»Moment!« Der Geistliche setzte die Brille wieder auf. »Hier steht etwas von einem Rufli.«
Anouk riss die Augen auf und drängte den Pfarrer beiseite. »Wo?«, rief sie, und ihre Stimme überschlug sich.
»Da!« Er deutete mit dem Zeigefinger auf einen Eintrag, ohne das Pergament dabei zu berühren.
»Ich kann die Schrift nicht entziffern«, jammerte Anouk. »Was steht denn da?«
»Huldrich Erismann Rufli. Theologe, geboren den 28. Oktober 1736, gestorben den 15. März 1764«, las der Pfarrer vor.
»Der Dichter?«, riefen Anouk und Max gleichzeitig. Sie schauten sich entgeistert an.
»Der war …«
»… also ein Rufli«, beendete Max den Satz. »Ich fasse es nicht!«
»Aber wieso hat Huldrich Erismann den Zunamen Rufli dann aus seinem Namen gestrichen?« Anouk trat von einem Fuß auf den anderen. »Und wieso verschweigt der Professor, dass er einen berühmten Dichter in der Familie hat?«
»Womöglich sind die beiden gar nicht miteinander verwandt«, wandte Max ein.
»Quatsch! Das kann kein Zufall sein.«
»Ich störe ja nur ungern Ihre Diskussion«, unterbrach der Pfarrer das Gespräch, »aber wollen wir nicht lieber wieder nach oben gehen? Mir frieren hier die Zehen ab.« Er zeigte auf seine bloßen Füße in den Sandalen.
Anouk und Max lachten.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Max, »aber Sie haben uns sehr geholfen. Herzlichen Dank!«
»Keine Ursache«, erwiderte der Pfarrer, schloss den Folianten und legte ihn sorgfältig an seinen Platz zurück. »Dafür ist die Kirche schließlich da.«
Er zwinkerte schelmisch, verschloss den Glasschrank wieder, und gemeinsam kletterten sie die schmale Treppe hinauf.
Der Temperaturunterschied war gewaltig, als sie wieder ins Freie traten. Es mussten mindestens zwanzig Grad mehr hier draußen herrschen. Anouk wurde es leicht schwindlig.
»Wenn es Ihnen keine Umstände macht«, wandte sie sich an den Geistlichen, »würde ich gerne noch ein Glas Ihres köstlichen Eistees trinken. Mein Hals ist staubtrocken.«
Der Pfarrer nickte erfreut. »Aber sehr gern. Er schmeckt gut, nicht wahr? Ein altes Familienrezept. Ich sollte es als Patent anmelden.«
Sie lachte. »Unbedingt! Und dann möchte ich der Kirche Seengen gerne eine Spende zukommen lassen«, fügte sie an. »Vielleicht zum Restaurieren alter Bücher? Ich hörte, es besteht dahin gehend Bedarf.«
»Das war nett von dir.«
Max
Weitere Kostenlose Bücher