Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
garstige Hexe sein. Und was ist mit dir, alte Frau? Womöglich hast du dich auch angesteckt? Sag, schleicht sich schon Furcht in dein Herz?
»Schweig!«, schrie Marie und hielt sich die Ohren zu, als könnte sie die Stimme in ihrem Innern damit zum Verstummen bringen. »Wir vertrauen auf Gott und seine Güte.«
Der letzte Satz klang jedoch nicht sehr überzeugend. Denn seit Désirée nicht mehr war, hatte Marie Mühe, zu ihrem früheren Gottvertrauen zurückzufinden. Doch an wen sollte sie sich sonst in ihrer Not wenden, wenn nicht an den heiligen Jesus? Sie stand auf, öffnete die Tür zum Nebenzimmer und gewahrte, dass Bernhardine immer noch schlummerte. Marie zog sich leise wieder zurück, warf sich das Schultertuch über und kramte eine dicke, weiße Kerze aus ihrer Kommodenschublade. Sie hatte lange gespart, bis sie sich diese hatte kaufen können. Sie war überdies als ihr eigenes Totenlicht gedacht gewesen. Doch die Zwillinge und Bernhardine brauchten die Spende nun nötiger. Ein einfaches Weib wie sie würde auch mit einem bescheidenen Talglicht die Himmelspforte finden. Mit diesem Gedanken machte sie sich auf den Weg zur Kapelle.
Bernhardine erwachte keuchend. Im Traum hatte sie gesehen, wie Désirée auf die Zinnen gestiegen war. Halb nackt und tränenüberströmt, während ein Schneesturm tobte und an ihrem Nachthemd zerrte.
Bernhardines Hals war ein einziges Flammenmeer. Sie hustete und stöhnte. Jeder Atemzug schmerzte wie tausend Bienenstiche. Sie langte nach dem Gebräu auf dem Nachttisch. Es war kalt geworden und schmeckte scheußlich, linderte aber die Schluckbeschwerden.
»Marie«, krächzte sie, »bist du da?«
Nur das Ticken der Pendeluhr war zu hören, dazu das Heulen des Windes vor dem Fenster. Bernhardine musste sich erleichtern. Und zwar dringend. Sie schlug die Decke zurück und setzte vorsichtig einen Fuß auf den Boden. Ihr Morgenmantel lag griffbereit auf dem Stuhl neben ihrem Bett, die Pantoffeln standen darunter. Das rote Kleid hing zum Auslüften vor dem Kleiderschrank. Als sie sich erhob, wurde ihr schwindlig. Kein Wunder, wusste sie doch nicht, wann sie zuletzt etwas zu sich genommen hatte. Sie hielt sich am Bettpfosten fest, schleppte sich dann zum Waschtisch, verschnaufte einen Moment und schlich an der Wand entlang zum Abort. Selbst durch die mit Lammfell gefütterten Pantoffeln hindurch spürte sie den eiskalten Steinboden. Beim Wasserlassen fühlte sie einen brennenden Schmerz im Unterleib, doch sie durfte sich nicht gehen lassen. Ihre Söhne brauchten sie. Und obwohl ihr Körper vehement nach dem warmen Bett verlangte, machte sie sich auf den Weg ins Kinderzimmer.
Was Cornelis wohl gerade tat? Ob er am Porträt malte oder sich zur Abreise entschlossen hatte? Seit der Totenfeier hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Zum einen war sie froh darüber, zum anderen vermisste sie seine Gegenwart. Auch wenn es keine Zärtlichkeiten mehr zwischen ihnen geben würde; seine bloße Anwesenheit hatte ihr Leben bereichert. Und wenngleich sie sich verbot, die Stunden in der Kapelle ins Gedächtnis zurückzurufen, konnte sie nichts dagegen tun, dass sie fortwährend von Cornelis’ Mund, seinen Händen und den Gefühlen träumte, die er in ihr geweckt hatte. Bernhardine seufzte. Sie wollte jetzt nicht weinen, nicht in Selbstmitleid und sinnlose Träumerei verfallen. Die Zwillinge brauchten ihre Mutter.
Der Weg zu den Kinderzimmern schien ihr unendlich weit. Hoffentlich begegnete sie Gerold nicht. Sie fühlte sich außerstande, ihrem Schwager in ihrer jetzigen Verfassung gegenüberzutreten. Stattdessen zählte sie darauf, dass der Priester Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, um ihren Vorwürfen nachzugehen. Selbst wenn er gegen Gerold nichts ausrichten könnte, bliebe ein dunkler Fleck auf dessen Weste zurück, und er würde für alle Zeit den Makel der Häresie mit sich herumtragen. Ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen.
Im Kinderzimmer war es frisch, als hätte jemand kurz zuvor gelüftet. Die Amme war auf dem Stuhl eingenickt, die Zwillinge schliefen ebenfalls. Das beruhigte Bernhardine ein wenig. Demzufolge schien es ihren Söhnen besser zu gehen. Leise trat sie an die Wiege heran, um sich mit einem Blick zu vergewissern, dass auch wirklich alles in Ordnung war – und stieß einen markerschütternden Schrei aus.
In der Kapelle war es dunkel. Niemand hatte daran gedacht, eine Kerze anzuzünden. Die vergangenen Tage hatten den gleichmäßigen Gang der Dinge und die
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