Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
betätigte den Blinker, bog ins Trottengässli ein und stoppte den BMW direkt vor Valeries Haus.
Anouk winkte ab. »Mein Konto lässt es zu. Ich habe die vergangenen Jahre sehr gut verdient.«
»Trotzdem. Die meisten Leute reden immer nur davon, Gutes zu tun, raffen sich aber nicht wirklich dazu auf. Ich bin stolz auf dich.«
Anouk errötete. Sein Kompliment machte sie verlegen, auch wenn sie sich gleichzeitig darüber freute. Sie hatte sich vor ihrem Unfall nie darum gekümmert, wie es anderen Menschen ging. Manchmal hatte sie zwar an Shootings teilgenommen, deren Erlöse für gute Zwecke an Organisationen wie »Terres des Hommes« oder die »Krebshilfe Schweiz« gespendet wurden oder an Tierversuchsgegner gingen. Aber letztendlich hatte der eigene Nutzen dabei immer im Vordergrund gestanden. Sie hatte es getan, weil es ihr gute Presse brachte, ihrer Karriere nutzte und sie gleichzeitig ihr schlechtes Gewissen damit beruhigen konnte.
Anouk war sich selbst immer am wichtigsten gewesen. Sie und die Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse. Und jetzt? Sie warf Max einen schnellen Blick zu. Sein Beruf war es, seinen Mitmenschen zu helfen. Und in diesem Moment verstand sie auch, was jemanden dazu brachte, für andere da sein zu wollen. Es befriedigte ungemein. Man war mit sich und der Welt im Reinen, weil die eigene Person nicht mehr im Mittelpunkt stand. Ehrliche Hilfsbereitschaft bewirkte, dass man sich fühlte, als würde im Körper eine kleine Feder schwingen.
»Du lächelst«, bemerkte Max, »darf ich den Grund dafür erfahren?«
Anouk strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Ich komme mir gerade wie Mutter Teresa vor«, sagte sie und lachte. Doch es klang bemüht. Es war ihr peinlich, ihre Gefühle vor Max auszubreiten. Sie befürchtete außerdem, dass er sie auslachen würde, aber er sagte nur: »Ein schönes Gefühl, nicht wahr?«
Verflixter Doktor! Konnte er wieder einmal ihre Gedanken lesen?
»Wie kommst du denn jetzt nach Hause?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
»Ich dachte, du würdest mich fahren«, erwiderte Max, doch als er ihre entsetzte Miene bemerkte, fügte er schnell hinzu: »Aber ich kann auch euer Fahrrad nehmen.«
Sie stieß erleichtert die Luft aus. »Kommst du später noch einmal vorbei? Wir müssen noch besprechen, wie’s weitergehen soll.«
Max blickte zum See hinab. Er hatte sein morgendliches klares Blau verloren und schien im sommerlichen Nachmittagsdunst an einer leichten Gelbsucht zu leiden. Die Luft war so feucht und schwer, dass ihnen die Kleider am Leib klebten.
»Hör zu, Anouk! Ich würde ja gerne das ganze Wochenende mit dir auf Schatzsuche gehen, aber ich habe auch noch einen Beruf. Morgen ist Sprechstunde, und ich muss meine Patientenakten durchsehen. Und am Mittwoch nehme ich an einem Weiterbildungskurs für Diagnostik teil, für den ich mich noch vorbereiten muss.« Er hob entschuldigend die Hände. »Das ist sicher alles nicht so abenteuerlich wie das Enträtseln unerklärlicher Phänomene, aber doch auch interessant.«
Anouk senkte den Kopf und nickte. Sie wusste, dass sie ihn und seine Zeit vereinnahmte. Und wie egoistisch das war. War sie sich nicht gerade eben noch wie eine Heilige vorgekommen, um nur wenige Minuten später wieder in ihr altes Muster zurückzufallen? Selbstlosigkeit schien bei ihr ein kurzes Verfallsdatum zu haben.
»Natürlich. Ich habe ja auch noch zu tun.« Sie überlegte krampfhaft, was sie anführen konnte. »Ich sollte … wirklich einmal meine Eltern und meine Schwester anrufen. Oder ihnen schreiben. Man schreibt ja heutzutage kaum noch Briefe. Wo Briefe doch …« Sie brach ab, weil sie merkte, dass sie sinnloses Zeug plapperte.
Max grinste. »Gute Idee! Aber«, er zog sie an sich, »wenn Madame heute Abend noch Zeit hätte, würde ich sie gerne zum Essen ausführen. Sagen wir um acht? Bis dahin ist mein Wagen hoffentlich wieder repariert.«
Sie strahlte. »Einverstanden.«
Sie küssten sich lange und zärtlich, und Anouk fühlte, wie sich ein köstliches Ziehen in ihrem Unterleib ausbreitete. Eine Mischung aus Erregung und Vorfreude.
Max seufzte, schüttelte bedauernd den Kopf und löste sich schließlich aus ihrer Umarmung. Er gab ihr einen letzten Kuss und humpelte dann zum Schuppen hinüber, wo er sich leidlich elegant aufs Rad schwang und Anouk zum Abschied noch einmal winkte. Sie hob ebenfalls die Hand, drehte sich um und trat lächelnd ins Haus.
Ich sollte mehr Sport treiben, ging es Max durch den Kopf,
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