Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Menschen im Schloss erschüttert. Ob jemals wieder so etwas wie ein normaler Alltag einkehren würde?
Marie atmete tief durch und ging zum Opfertisch. Sie durfte nicht verzweifeln, denn ohne Hoffnung war das Leben sinnlos. Sie knickste vor dem gekreuzigten Heiland, zog ihre Kerze aus der Rocktasche hervor und stellte sie auf den Steinaltar. Mit klammen Fingern griff sie nach der Zunderbüchse, die neben dem verbrauchten Kerzenstummel lag.
»Kann ich helfen?«
Marie drehte sich erschrocken um. Vor ihr schälte sich die Gestalt des Malers aus der Finsternis zwischen den Bankreihen heraus und stellte sich neben sie. Er nahm ihr die Büchse unaufgefordert aus der Hand, entfachte geschickt einen Funken, hielt ihn an den Feuerschwamm und entzündete damit die Kerze.
»Schon besser«, meinte er, »die Dunkelheit frisst am Gemüt.«
Marie nickte, ohne etwas zu sagen. Sie wollte lieber allein sein, um zu beten. Und um einen kleinen Handel mit Gott abzuschließen. Eine Hand wäscht die andere, war ihr Motto, von dem auch der Herrgott nicht ausgenommen war.
»Wie geht es Eurer Herrin?«, fragte der Holländer und setzte sich in die vorderste Bankreihe.
Er sah schlecht aus. Seine Haare waren zerzaust, der Bart seit Tagen nicht gestutzt, im flackernden Kerzenschein wirkte sein Gesicht fahl, die Wangen eingefallen. Dieses Schloss machte alle krank!
Maries Augen wurden plötzlich riesengroß. Hatte Cornelis van Cleef womöglich die tödliche Krankheit eingeschleppt? Aber was spielte das noch für eine Rolle, es würde nichts mehr ändern, wenn man den Schuldigen kannte.
»Sie ist krank, Meister van Cleef«, sagte sie und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Sehr krank.«
Der Maler nickte und vergrub sein Gesicht in den Händen. Marie hatte plötzlich Mitleid mit ihm. Sie wusste schon lange, was zwischen ihm und Bernhardine vor sich ging, und hatte diese Entwicklung mit Sorge zur Kenntnis genommen. Die zwei spielten mit dem Feuer und waren sich dessen vermutlich nicht einmal bewusst. Und jetzt saß der Bursche hier wie ein Häuflein Elend. Nur weil er verliebt war. Und wer konnte ihm verdenken, dass Bernhardine sein Blut in Wallung brachte? Sie war jung, schön und reich. Jedes dieser drei Attribute für sich allein war schon Versuchung genug, und van Cleef war schließlich auch nur ein Mann.
Marie setzte sich zu Cornelis auf die Bank. Einen Moment überlegte sie, mit welchen Worten sie ihm Trost spenden könnte. Sie war nicht sehr gebildet, aber es drängte sie danach, dem Holländer wenigstens ein wenig Zuspruch zukommen zu lassen.
Sie blickte zum gekreuzigten Heiland hoch, dann auf das gesenkte Haupt des Malers und legte ihm zaghaft eine Hand auf den Arm.
»Schaut, Cornelis, Bernhardine ist eine Adlige, und das wird sie bleiben, was auch immer geschieht. Und der Spatz kann nun einmal nicht die Taube freien, auch wenn sie beide Flügel haben.«
Cornelis zog tief die Luft ein und nickte.
»Ihr habt recht, Marie. Ich … wir wussten das immer, aber was will man gegen seine Gefühle tun? Wenn das Herz spricht, verstummt der Verstand.«
Marie lächelte. Der Holländer war nicht dumm. Sie konnte Bernhardines Empfindungen für den Künstler durchaus verstehen, obwohl sie sie nicht billigte. Aber im Gegensatz zu Johannes war der Maler eben ein ansprechendes Mannsbild. Es war nicht sein Fehler, dass er in die falsche Familie hineingeboren worden war. Aber ändern ließ sich das nun einmal nicht, sondern blieb, wie es war. Es gab Herren, und es gab Knechte. Und jeder musste auf seinem Platz bleiben.
»Betet für sie, Cornelis! Wenn Ihr sie liebt, bittet den Heiland inbrünstig darum, dass er sie und die Zwillinge wieder gesund macht.«
Bernhardine stolperte auf der Suche nach Johannes durch die Gänge. Ihr Morgenmantel flatterte wie ein Segel hinter ihr her. Sie keuchte, Tränen strömten über ihr Gesicht und nässten ihren Busen, aber sie merkte es nicht.
Die Zwillinge hatten die Pocken! Das Grauen drohte, sie angesichts dieser Erkenntnis zu überwältigen. Sie stützte sich auf einen Mauervorsprung und hustete sich die Seele aus dem Leib. Der Tod lauerte im Schloss. Hinter jeder Ecke vermeinte sie, seine Fratze zu erblicken und zu hören, wie er die Sense schliff. Er wollte mähen: die Ähren, die Schlossbewohner, die Kinder.
»Meine Kinder!«, schrie sie zwischen zwei Hustenanfällen. »Hast du denn immer noch nicht genug?«
Sie riss alle Türen auf. Johannes war nirgends zu erblicken. Es blieb nur noch eine
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