Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Möglichkeit, wo er sich aufhalten konnte: bei seinem Bruder.
Sie schleppte sich in den ersten Stock hinauf und hämmerte an Gerolds Zimmertür. Nach einem Augenblick wurde diese geöffnet, und ihr Schwager musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Welch ungewöhnliches Habit, verehrte Brudergattin! Ist das die neueste Mode aus Paris?«
Bernhardine stieß einen unartikulierten Laut aus und zwängte sich an ihm vorbei ins Zimmer.
»Wo ist mein Gatte?«, keuchte sie und hielt sich an einem Stuhl fest. »Ich muss ihn unverzüglich sprechen.«
Gerold kratzte sich am Kinn, blickte demonstrativ um sich und schüttelte dann bedauernd den Kopf.
»Wie Ihr selbst seht, befindet er sich nicht in meinen Gemächern. Doch wartet …!« Er griff in seine Westentasche und machte ein betrübtes Gesicht. »Nein, ich bin untröstlich, auch hier hat er sich nicht versteckt.«
Bernhardine war zu schwach, um sich gegen seinen Spott zu wehren. Was spielte es noch für eine Rolle, dass er sie erniedrigte? Sollten die Zwillinge tatsächlich an den Pocken erkrankt sein, trüge sie den Keim der Krankheit vermutlich schon in sich. Und was das bedeutete, wusste sie nur zu gut. Dann waren alle auf dem Schloss in Gefahr, an der schrecklichen Geißel zu erkranken und vielleicht sogar zu sterben. Selbst dieser überhebliche Teufelsanbeter, der mit einem maliziösen Lächeln am Türrahmen lehnte. Sie wollte ihm die gute Nachricht bereits in seine anmaßende Visage schleudern, als ihr ein Gedanke kam und ein gefährliches Funkeln in ihren Augen aufglomm.
»Ja, lieber Schwager, Ihr habt recht, ich muss meinen Gatten anderweitig suchen. Habt Dank für Euren guten Rat.«
Sie trat so nahe an ihn heran, dass sie seinen sauren Atem riechen konnte und den Schweißgeruch, den er mit viel Parfüm zu überdecken versuchte. Gerolds rechtes Lid zuckte.
Bernhardine blickte in seine schwarzen Augen, sammelte ihren Speichel, schlang ihre Arme um seinen dürren Hals und presste ihre Lippen auf die seinen. Ihre Zunge drang schnell und fordernd in seinen Mund ein. Gerold keuchte und schreckte zurück. Bernhardine lächelte.
»Ein Geschenk, verehrter Schwager. Mögt Ihr lange Freude daran haben.«
19
Seengen, 2010
D er Pfarrer stand am Fuß der Treppe und wartete. Sie befanden sich in einer Art Vorraum, von dem mehrere Türen abgingen. Der Geistliche öffnete die erste zu ihrer Rechten und betätigte den Lichtschalter. Auf der einen Seite des Zimmers, das nun hell erleuchtet war, standen Aktenschränke, die alphabetisch beschriftet waren. Links davon reichte ein großer Glasschrank, in dem dicke Folianten lagerten, bis knapp unter die Zimmerdecke. Die meisten waren in Leder gebunden, andere in Leinen eingeschlagen, dazwischen immer wieder lose Blätter zwischen Pappdeckeln, die mit dicken Schnüren zusammengehalten wurden.
»Das entspricht schon eher der Vorstellung eines Kirchenarchivs, nicht?«, raunte Max. Anouk nickte stumm.
Der Pfarrer wies mit dem Kopf auf den gläsernen Schrank und lächelte geheimnisvoll. Er öffnete dessen Schloss, sah auf seinen Ausdruck und griff zielstrebig nach einem dicken Buch im obersten Fach. Er zog es heraus, legte es auf den Tisch und schlug es auf.
Anouk konnte kaum an sich halten. Fast am Ziel!, wisperte eine Stimme in ihrem Kopf und ließ sie schaudern.
»Ist dir kalt?«, flüsterte Max.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich platze nur fast vor Neugier.«
Er griff nach ihrer Hand, und gemeinsam traten sie näher.
Der Foliant war an einer Seite ein wenig angekohlt, das Leder abgenutzt und brüchig.
»Man sollte die Dokumente unbedingt restaurieren«, bemerkte der Pfarrer. »Nur leider ist das wahnsinnig teuer. Und bislang standen immer dringlichere Projekte an. Aber womöglich schreibe ich nächstens dem Schweizerischen Museumsverein einen Bettelbrief. Oder haben Sie vielleicht gute Verbindungen zu Kurator Rufli?« Er blickte über die Schulter. Anouk verdrehte die Augen. »Das interpretiere ich einmal als ›Nein‹«, bemerkte der Pfarrer trocken. »Nun ja, soweit ich informiert bin, weiß der Professor nichts von diesen antiquarischen Büchern. Man war auch lange Zeit der Meinung, dass bei dem Brand damals alle Dokumente vernichtet worden wären. Doch als ich mir vor ein paar Jahren oben mein Büro eingerichtet habe, fanden die Maurer diesen Keller. Die Akten wurden dann von unserem Kirchenarchivar katalogisiert. Ob der Professor wohl an ihnen interessiert ist und ein paar Fränkli für sie lockermacht?
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