Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
gepudertes Etwas auf dem Kopf, das mit Stoffblumen und Perlen geschmückt war, und himmelte Max an. Der hatte sich neben ihr auf die Bank gefläzt, die Beine weit ausgestreckt, und starrte finster zu Anouk hinüber.
Die ganze Nacht lang hatte Anouk gegrübelt, an welcher Stelle ihre gestrige Unterhaltung gekippt und in gegenseitiges Unverständnis und Missstimmung umgeschlagen war, und mit Schrecken festgestellt, dass erst ab ihrer haltlosen Unterstellung, Max könne wie Rufli reagieren, alles schiefgelaufen war. Deshalb hatte sie sich, in der Hoffnung, zu retten, was noch zu retten war, auch gleich nach dem Aufstehen vorgenommen, sich bei Max zu entschuldigen. Schließlich liebte sie ihn – das war ihr in der vergangenen Nacht ebenfalls klar geworden – und wollte nicht, dass ihre Beziehung wegen eines dummen Missverständnisses in die Brüche ging. Aber seine abweisende Miene, als sie zur Theaterprobe erschienen war, hatte sie abgeschreckt. Außerdem hatte sie keine Lust, sich vor versammelter Mannschaft lächerlich zu machen. Also hatte sie ihm nur kurz zugenickt und sich danach schnell umgezogen. Sie hoffte aber, ihn später noch unter vier Augen sprechen zu können. Ihr Autounfall und Julias Tod hatten Anouk bewusst gemacht, wie schnell sich das Leben ändern konnte und dass manchmal keine Zeit mehr blieb, etwas klarzustellen. Wie schmerzlich dies auch immer war.
Heute war die Hauptprobe. Die erste Vorstellung würde am Mittwoch stattfinden, die zweite am Samstagabend. Und voller Stolz hatte Brigitte verkündet, dass bereits alle Karten verkauft wären. Anouk neigte zur Nervosität, aber ihre momentane Unruhe war wohl eher das, was man Lampenfieber nannte. Was, wenn sie ihren Text vergaß? Oder von der Bühne fiel? Ihr wurde schlecht, und sie schloss für einen Moment die Augen, atmete tief ein und wieder aus und konzentrierte sich auf ihre Körpermitte. Doch es half nichts. Ihr Magen rebellierte, kalter Schweiß trat auf ihre Stirn und drohte das Werk des Maskenbildners zu ruinieren.
Sie zog ihre Armbanduhr aus der Rocktasche. Ihr blieb noch genügend Zeit, um sich die Füße zu vertreten. Also schlenderte sie zum Schlosstor hinaus und ging auf die hohen Bäume zu, die den hinteren Teil des Vorplatzes in bläuliche Schatten tauchten. Zu ihrer Rechten befand sich der Schlossfriedhof, und Anouk musste unwillkürlich an Bernhardines Gedicht denken. Wie sollte sie nur herausfinden, wo man sie begraben hatte? Ob es vielleicht ein Gerät gab, mit dem man Knochen unter der Erde ausfindig machen konnte? Sie setzte sich auf einen der vielen hier aufgestellten Findlinge und musterte das Wasserschloss. Die untergehende Sonne tauchte die Zinnen und Türme in warmes Gold. Es war ein friedliches Bild. Nichts deutete darauf hin, dass sich hier vor nicht ganz dreihundert Jahren eine Tragödie abgespielt haben musste. Wenn Steine sprechen könnten!
»Ich brauche ein Zeichen, Bernhardine«, murmelte Anouk vor sich hin, »ansonsten kann ich dich nicht finden.«
»Hallo.«
Anouk schaute erschrocken hoch. Max stand vor ihr, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben.
»Hallo«, erwiderte sie, zu überrascht, um etwas Originelles von sich zu geben.
»Siehst toll aus!«, sagte er und grinste.
Anouk grinste zurück. »Ja, nicht wahr? Sozusagen ein Blick in die Zukunft: ich mit sechzig.«
Eine Strähne fiel Max in die Stirn. Der Drang, sie ihm zurückzustreichen, war übermächtig.
»Kann ich mich setzen?«
Als Antwort rutschte Anouk ein Stück zur Seite, und Max quetschte sich neben sie auf den Findling. Eine Weile blieben beide stumm und lauschten den Geräuschen der Dämmerung: Vogelgeschrei in den Bäumen, glucksendes Wasser, zirpende Grillen.
»Ich …«, begann Anouk.
»Wir …«, sagte Max zur gleichen Zeit.
Sie sahen sich an und mussten dann beide lachen.
»Ich zuerst.« Anouk holte tief Luft. »Es war dumm von mir, dir zu unterstellen, dass die Verwandtschaft mit Rufli ein Problem für dich sein könnte. Ich war nur … na ja, so überrascht und hatte gleichzeitig Angst, dich zu verlieren. Verzeihst du mir?«
Max musterte sie von der Seite. »Schon vergessen«, erwiderte er und machte eine kurze Pause. »Ich hatte die gleiche Angst«, meinte er dann und schüttelte den Kopf. »Und so etwas nennt man nun erwachsen sein.«
»Also ich bin es auf alle Fälle … wenigstens äußerlich«, erwiderte Anouk trocken.
Max lachte. »Ich würde dich jetzt gerne küssen, aber Thierry erschlägt mich, wenn sein
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