Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
die Stufen hinaufzukommen. Ihre Beine knickten ein, und mit einem Schrei fiel sie auf die kalten Steintritte.
Bernhardine tot? Ihr Dinchen tot? Sie schlug die Hand vor den Mund und wiegte sich hin und her. Selbstmord? Nie im Leben! Bernhardine war zwar verzweifelt gewesen, doch so einen feigen Entschluss hätte sie niemals gefasst. Der Freitod war eine Todsünde. Jeder wusste, dass Selbstmörder in die Hölle kamen. Nein, nein! Sie schüttelte immer wieder den Kopf. Dinchen würde nicht selbst Hand an sich legen. Désirées Verlust hatte ihr außerdem gezeigt, wie sehr sie ihre Kinder liebte. Sie hätte die Zwillinge nicht einfach so zurückgelassen. Jetzt, wo sie an der Schwelle zum Tod standen. Da stimmte etwas nicht. Gerold! Natürlich. Marie riss die Augen auf. Der Teufel war zurückgekommen, um nach Désirée nun auch Bernhardine zu beseitigen.
»Herr im Himmel«, flüsterte sie und faltete die Hände. »Wenn mein Dinchen wirklich tot sein sollte, dann sei milde in Deinem Urteil. Sie hat gefehlt, aber Du bist gütig. Du wirst ihr verzeihen und sie wieder mit ihrer Tochter zusammenführen.«
Maries Augen blieben trocken. Aber vielleicht hat man in seinem Leben auch nur eine begrenzte Anzahl Tränen zur Verfügung. Und die meinen habe ich bereits um Désirée vergossen, überlegte sie. Und noch während sie das dachte, füllten sich ihre Augen, und sie fing an zu schluchzen. Als ihr Klagen leiser wurde, trocknete sie sich mit dem Schürzenzipfel das Gesicht und zog sich am Geländer hoch. Und Johannes? War er gestern Nacht tatsächlich im Schnee umgekommen? Marie hatte schon seit Monaten bemerkt, dass der Schlossherr nicht mehr bei guter Gesundheit war. Oder hatte Gerold auch etwas mit dessen Tod zu tun?
Sie hatte plötzlich entsetzliche Angst. Was, wenn Gerolds Auge sich nun auf sie richtete? Sie würde diesem Teufel nichts entgegensetzen können. Sie war nur ein altes Weib ohne jede Bildung. Eine leichte Beute für einen hochwohlgeborenen Herrn. Am Ende würde man sie sogar noch der Hexerei anklagen, weil sie ab und zu etwas weißen Zauber veranstaltet hatte. Sie schluckte schwer. Was sollte sie bloß tun, jetzt, wo weder Bernhardine noch Johannes sie beschützen konnten? Sie war auf Gedeih und Verderb dem neuen Schlossherrn ausgeliefert. Doch halt, einen Freund hatte sie noch!
Marie sah zum Fenster hinaus. Der Morgen hatte die Nachtschatten bezwungen. Ein grauer Himmel spannte sich über dem Seetal und versprach neue Schneefälle. Doch noch waren die Wege gefroren und daher gut befahrbar. Auch wenn nicht mehr viel Zeit blieb.
Im Atelier war es dunkel und kalt. Es roch nach Farben und Harzöl. Mitten im Raum standen die Staffelei und das Porträt, das Bernhardine bei dem Holländer in Auftrag gegeben hatte. Es war mit einem weißen Tuch abgedeckt.
»Cornelis? Bist du hier?« Marie war, ohne dass es ihr bewusst war, zum vertrauten Du übergegangen.
Sie wagte kaum, ihre Stimme zu erheben, denn der Archivturm befand sich genau neben dem Palas, in dem Gerold Hof hielt und das Gesinde darüber instruierte, wie ihr neuer Herr sich das Leben auf dem Schloss vorstellte. Johannes hatte man noch immer nicht gefunden. Angeblich war er im See ertrunken, als er auf dem Weg zum Baldegger Kloster gewesen war, um den Arzt für die Zwillinge zu holen. Marie schauderte. Nur sein Gaul hatte sich retten können. Der hatte Glück gehabt! Ein paar Hufschläge weiter, und Johannes hätte ebenfalls das rettende Gestade erreicht. Aber Glück war in dieser Familie ein seltener Gast.
Über das, was mit der Herrin geschehen war, kursierten die wildesten Gerüchte. Die einen sagten, sie hätte sich aus Kummer über den Tod ihres Ehemanns von den Zinnen gestürzt. Lachhaft! Denn Bernhardine hatte Johannes nie gemocht. Wieso also sollte sie sich seinetwegen umbringen? Andere wiederum behaupteten, sie sei infolge der schrecklichen Todesfälle wirr im Kopf geworden und hätte versucht, wie ein Vogel zu fliegen. Dabei sei sie von der Begrenzungsmauer gestürzt und im Aabach ertrunken. Und dann gab es noch weiteres Geschwätz, das widerwärtigste überhaupt. Marie hatte zwei Mägde dabei belauscht, wie sie sich hinter vorgehaltener Hand darüber unterhalten hatten, dass Bernhardine eine Hexe gewesen sei. Die törichten Weiber hatten geflüstert, die Herrin sei auf einem Besen um die Schlosstürme herumgeflogen. Dreimal. Dabei hätte sie ihre Brüste und ihr Geschlecht entblößt und den Satan angerufen. Anschließend hätte sie mit dem
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