Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
vorbei.
Anouk überquerte die Straße und trabte zum See hinunter. Rechts? Links? Sie wandte sich nach links und lief Richtung Brestenberg. Ausatmen, einatmen. Ihr Herz pumpte, sie fing an zu schwitzen, und fühlte sich lebendig. Wer dem Tod ins Auge gesehen hat, schätzt das Leben ungleich kostbarer. Wer hatte das gesagt? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Ihre Gedanken schweiften zum Dienstagmorgen zurück und in die Kammer unter dem Pfarrhaus, als sie gedacht hatte, sie würde gleich sterben.
Das Wesen, das einmal Professor Rufli gewesen war, griff nach dem grünen Folianten, hob ihn auf und presste ihn an seine Brust. Anouk zitterte am ganzen Körper. Sie schob sich langsam an der Wand entlang Richtung Tür. Doch die Kreatur bemerkte ihren Fluchtversuch und stieß ein tiefes Knurren aus.
»Sie wird mir nicht entkommen«, wisperte sie mit einer Stimme, die Anouk übel werden ließ. »Niemand entkommt mir. So jemand das Tier anbetet und sein Bild und nimmt sein Malzeichen an seine Stirn oder an seine Hand, so wird er mir verbunden sein. Für alle Zeit.«
»Wer bist du?«, flüsterte Anouk. »Was willst du von mir?«
Das Ding öffnete das Kirchenregister und begann, Seiten herauszureißen und sie sich ins Maul zu stopfen.
»Ich bin, der ich bin. Für jeden ein anderer. Ich habe das Land durchzogen, ich habe die Zeit durchzogen. Ich bin hier und zugleich dort. Ich bin ich und immer.«
Das kann nicht real sein, dachte Anouk und schüttelte den Kopf. Das träume ich entweder, oder ich habe eine Halluzination. Gleich wird mich jemand wecken, oder die Tür geht auf und einer schreit: April, April!
Doch nichts dergleichen geschah. In dem kleinen Raum stank es bestialisch. Anouk musste würgen. Neben Max breitete sich eine Blutlache aus. Sie sah, wie sich seine Brust in schneller Folge hob und senkte. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.
Anouk griff sich an den Hals und zog ihr kleines silbernes Kreuz unter der Bluse hervor. Vielleicht half das. Sie hatte genug Horrorfilme gesehen, um dahin gehend Hoffnung zu hegen. Doch das Wesen warf nur den Kopf in den Nacken und fing an zu lachen. Es holte aus und schlug ihr das Kreuz aus der Hand. Anouks Haut brannte an der Stelle, an der die Kreatur sie berührt hatte, wie Feuer. Also auch keine Fotos für Ringe und Nagellack mehr. Sie fühlte ein hysterisches Lachen in ihrer Kehle aufsteigen.
Das Wesen schlurfte auf sie zu und streckte seine Klauen nach ihrem Hals aus. Anouk drückte sich an die Wand, legte den Kopf auf die Seite und schloss die Augen. Hoffentlich ginge es schnell.
Da ließ sie ein hoher, schriller Laut zusammenzucken. Wo blieb der Schmerz? Sie riss die Augen auf. Hinter der Kreatur sah sie den Pfarrer stehen, der nun mit ruhiger Stimme sagte: »Weiche, du böser Geist, im Namen des dreieinigen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes! Sieh nicht, höre nicht, verwirre nicht, knechte nicht, löse die Fessel! Der Herr, unser Gott, dein Herr, gebietet dir. Weiche und kehre nicht wieder. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«
Das Wesen krümmte sich und stieß unartikulierte Laute aus. Es streckte seine Krallen nach dem Priester aus, doch dieser wich keinen Schritt zurück. Am Kopf des Geistlichen hatte sich eine enorme Beule gebildet, aber sein Gesichtsausdruck war friedlich, fast entrückt, als befände sich in seinem Körper eine ungeahnte Quelle, die ihm Kraft und Mut verlieh. Noch einmal sprach er die gleichen Worte, und das Wesen begann zu schrumpfen. Wie ein Ballon, dem die Luft entweicht, wurde es immer kleiner, bis es wieder die Größe und Gestalt des Kurators hatte.
Der Geistliche sprang zu Rufli und entwand ihm die Pistole. »Die brauchen Sie nicht mehr, Herr Professor. Wir gehen jetzt alle rauf, hinaus ins Licht.«
Ruflis Augen glühten vor Hass, doch die Waffe, die auf seine Brust gerichtet war, ließ ihm keine Wahl. Der Priester dirigierte den Kurator damit zur Tür und drehte den Kopf dann kurz in Anouks Richtung.
»Haben Sie ein Handy dabei?« Anouk nickte. »Schnell, rufen Sie unter der 114 zuerst den Rettungsdienst und danach unter der 117 die Polizei an. Die sollen sich verdammt noch mal beeilen!«
Dann war er weg, und Anouk registrierte mit Verwunderung, dass sogar ein Pfarrer ab und zu fluchte.
Der Krankenwagen fuhr mit Blaulicht und heulendem Martinshorn vom Friedhofsparkplatz. Anouk sah ihm weinend hinterher. Der Sanitäter hatte nur den Kopf geschüttelt, als sie ihn darum
Weitere Kostenlose Bücher