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Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau in Rot: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot S. Baumann
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weder an Hexen noch an Zauberei. Auch wenn er jetzt ein wenig an seiner Entscheidung zweifelte. Man hatte ihm vorhin eine Liste mit den Wünschen seiner zukünftigen Ehefrau gebracht. Er zog das Pergament hervor, überflog es kurz und schüttelte den Kopf. Eine Putzmacherin wollte sie haben, parfümierte Wasserschalen für den Esstisch, Spielleute – über vierzig Posten waren aufgeführt. Grundgütiger, woher sollte er das Geld für all das nehmen?
    Johannes kratzte sich am Kopf, worauf seine Perücke verrutschte. Er nahm sie ab und warf sie auf den Schreibtisch. Zufällig fiel sein Blick dabei auf einen Messingleuchter. Wenn sein Konterfei auch durch die Wölbung des Metalls verzerrt wurde, konnte er nicht umhin zu bemerken, dass er alt geworden war. Von dem stattlichen Recken von einst war nur noch ein übergewichtiges, kahlköpfiges, gichtgeplagtes Mannsbild zurückgeblieben. Ob seine junge Frau ihn abstoßend fand? Zweifelsohne, da machte er sich nichts vor. Vermutlich waren ihre verklärten Vorstellungen, was das Erscheinungsbild ihres zukünftigen Gemahls anging, herb enttäuscht worden. Aber schließlich bot er ihr ein Schloss, eine sichere Zukunft und einen Titel. Sie sollte sich also glücklich schätzen, so eine vorteilhafte Partie zu machen! Aber vielleicht tat er der jungen Bernerin ja unrecht, und sie musste sich nur erst an ihn und an die neue Umgebung gewöhnen. Auch Viktoria war es zu Anfang schwergefallen. Über Johannes’ Gesicht huschte ein warmes Lächeln wie jedes Mal, wenn er an seine erste Frau dachte. Das Schicksal hatte sie ihm viel zu früh entrissen. Bei der Geburt ihres Kindes waren sowohl sie als auch ihr gemeinsamer Sohn gestorben. Er war danach nicht mehr fähig gewesen, eine andere Frau zu lieben. Liebschaften, ja, die hatte es natürlich gegeben. Er war schließlich ein Mann und die Mägde willig, aber zu einer Nachfolgerin für Viktoria hatte sein Mut nicht gereicht. Doch jetzt wurde er alt und spürte das Verlangen, einen Menschen um sich zu haben, der für ihn sorgte, bis ihn der Allmächtige zu sich rief. Außerdem musste er seine Nachkommenschaft sichern, ansonsten würde das Schloss Gerold zufallen.
    Johannes schnaubte. Er verstand sich immer weniger mit seinem jüngeren Bruder, dessen frömmelnde Art ihm auf die Nerven ging. Überall sah dieser Hexen, Ketzer und Verdammte. Wenn Gerold könnte, würde er das Schloss vermutlich in ein Kloster verwandeln. Erst kürzlich hatte er erneut gegen die Bernerin gewettert. Doch Johannes wollte einen Erben. Bernhardine war jung und gesund; sie hatte die nötigen Voraussetzungen, ihm einen Stammhalter zu gebären. Vielleicht konnte sie ihn sogar irgendwann lieben. Er nahm sich vor, sein Bestes dahin gehend zu versuchen. Der Weg zum Herzen einer Frau lag oft in der Erfüllung ihrer Anliegen. Johannes griff erneut nach der Liste und klingelte nach seinem Diener.

4
    Seengen, 2010
    I m Wartezimmer der Arztpraxis roch es nach Desinfektionsmitteln und Bohnerwachs. Über einer hellbraunen Sitzgruppe hing ein Bild des Matterhorns. In einer Ecke stand ein fleischiger Gummibaum. Die Magazine auf dem Glastisch waren abgegriffen und zerfleddert. Anouk hatte die Wahl zwischen einer Tageszeitung der vergangenen Woche, dem Reader’s Digest und einem Arztmagazin, auf dessen Titelblatt ein schwach durchblutetes Herz prangte. Sie setzte sich auf einen Stuhl, schlug die Beine übereinander und wühlte in ihrer Handtasche nach einem Kaugummi.
    Ob sie mit dem Arzt über die Ereignisse der letzten Tage reden sollte?
    »Hallo, Herr Doktor, ich höre seit meinem Unfall Stimmen, die Gedichte aufsagen – ist das normal?«
    Anouk grinste. Womöglich würde er sie daraufhin sofort in die Psychiatrie einweisen lassen. Außerdem wagte sie zu bezweifeln, dass ein Wald- und Wiesenarzt überhaupt der Richtige für die Analyse solcher Symptome war. Sie hörte Türen schlagen, gleich darauf trat ihre Großtante ins Wartezimmer und sagte über ihre Schulter hinweg: »Ah, Herr Doktor, darf ich Sie mit meiner Großnichte Anouk bekannt machen? Sie betreut mich alte Frau für ein paar Monate.«
    Valerie kicherte mädchenhaft. Anouk stand der Mund offen. Seit sie sich erinnern konnte, hatte sie ihre Großtante noch nie auf diese Weise lachen hören. Dieser Doktor musste wirklich etwas ganz Besonderes sein.
    »Aber Frau Morlot, Sie sind doch nicht alt! Sie fischen doch nur nach Komplimenten, Teuerste.«
    Teuerste? Anouk verdrehte die Augen. War der Mann vielleicht so etwas

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