Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
wie ein schlechter Komödiant? Hinter Valerie trat ein schlanker Mann herein, der einen weißen Arztkittel trug und dringend einen Haarschnitt benötigt hätte. Anouk riss die Augen auf.
»Sie sind das!«, riefen sie und der Doktor gleichzeitig aus.
Valerie schaute die beiden verblüfft an. »Ihr kennt euch?«
Der Arzt fand als Erster die Sprache wieder. »Ja, das heißt, nein. Ich meine … wir lernten uns im Zug kennen. Ich habe Ihre Großnichte sozusagen körperlich aufgefangen.«
Er zwinkerte Anouk zu.
»Davon hast du mir ja gar nichts erzählt.«
Valerie runzelte die Stirn. Klang da etwa Eifersucht mit? Anouk verbiss sich ein Schmunzeln.
»Ich wusste doch nicht, dass er dein Hausarzt ist, Tati«, versuchte Anouk, sie zu beschwichtigen. »Ich bin gestolpert und auf Herrn Sandmeier gefallen. Das ist alles.« Sie griff nach ihrer Handtasche. »Können wir?«
Valerie legte vertraulich ihre Hand auf den Arm des Arztes. »Also um halb sieben. Und bitte keine Blumen – die sparen Sie sich lieber für meine Beerdigung auf.«
Doktor Sandmeier lachte schallend und nickte.
»Abgemacht. Aber eine Flasche Wein darf ich doch mitbringen, oder? Ich habe heute nämlich keinen Bereitschaftsdienst, und ich weiß ja, was für eine hervorragende Köchin Sie sind. Und zu einem köstlichen Essen gehört auch ein köstlicher Wein.«
Anouks Blicke flogen hin und her. Der Arzt würde zum Abendessen kommen? Ihre Tante hatte also postwendend den Kuppeldienst aufgenommen. Anouk stieß die Luft aus, und der Arzt warf ihr einen schnellen Blick zu, als er es bemerkte. Sollte er doch, es war ihr gleichgültig. Hauptsache, er brächte Wein mit. Hoffentlich gleich zwei Flaschen.
»Du bist unmöglich!« Valerie kämpfte verbissen mit der Gangschaltung des BMW. Mit einem hässlichen Knirschen quittierte das Getriebe ihre Bemühungen, und der Wagen schoss aus der Parklücke. »Doktor Sandmeier ist so ein feiner Mensch. Er hat es nicht verdient, dass du dich über ihn lustig machst. Ich bin wirklich böse auf dich!«
»Nun komm schon, Tati. Ich habe ja gar nichts gesagt.« Anouk klammerte sich ängstlich an ihre Handtasche. »Würdest du bitte langsamer fahren?«
»Nein, gesagt hast du nichts, aber du warst unhöflich.« Ihre Großtante trat das Gaspedal noch fester durch und würgte den zweiten Gang rein. »Der Mann ist ja nicht dumm.«
Anouk seufzte. Ihre Großtante hatte recht. Der Arzt konnte nichts dafür, dass sie im Moment ein bisschen neben sich stand.
»Tut mir leid. Ich verspreche, heute Abend bin ich die Liebenswürdigkeit in Person.« Anouk fing einen skeptischen Blick ihrer Großtante auf. »Und wenn du jetzt noch so freundlich wärst, vom Gas zu gehen, lächle ich auch den ganzen Abend über. Ehrenwort!«
Max setzte sich an seinen Schreibtisch und notierte das aktuelle Tagesdatum in Valerie Morlots Patientenakte. Die vaskuläre Demenz, die er vor einem halben Jahr bei ihr diagnostiziert hatte, stagnierte zu seiner großen Freude für den Moment. Die Arterienverkalkung, die zu Verengungen der Blutgefäße im Hirn führte, war nicht heilbar, doch die medikamentöse Behandlung schlug gut bei seiner Patientin an, und er hoffte, dass der Krankheitsverlauf mit gezieltem Gedächtnistraining und einer leichten Beschäftigungstherapie um einiges verlangsamt werden konnte. Max mochte die alte Dame, die ihn mit ihrer unkonventionellen Art immer zum Lachen brachte. Und so hoffte er nur, dass die Krankheit noch möglichst lange stillhalten und kein hilfloses Bündel Mensch aus ihr machen würde, das auf ständige Betreuung angewiesen war. Max seufzte. Das Leben war manchmal wirklich ungerecht.
Unwillkürlich dachte er an die attraktive Touristin, die sich als Valerie Morlots Großnichte entpuppt hatte. Und obwohl sich Anouk ihm gegenüber äußerst reserviert verhielt, gefiel sie ihm immer besser. Außerdem glaubte er zu wissen, dass sich hinter ihrer Ruppigkeit in Wahrheit eine tiefgehende Traurigkeit verbarg. Valerie Morlot hatte ihm vom Unfall ihrer Großnichte erzählt, und so sah er in ihrem abweisenden Verhalten eher eine Nachwirkung dieses schrecklichen Ereignisses als eine grundlegende Antipathie ihm gegenüber. Ob sie sich wohl die Schuld am Tod ihrer Freundin gab? Vermutlich, sonst wäre sie sicher etwas aufgeschlossener gewesen.
Doch letztendlich ging ihn das nichts an, und so murmelte er abschließend vor sich hin: »Du hast genug andere Patienten, kümmere dich lieber um die.«
Er griff nach dem nächsten
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