Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
hinwegzutragen. Nach der vierzigsten Dame aus der Oberschicht, die angeblich an einer unheilbaren Krankheit litt und auf nächtliche Hausbesuche pochte, hatte Max den Bettel hingeschmissen und war nach Seengen zurückgekommen, wo er zur Schule gegangen war. Und obwohl er weit weniger verdiente als in Zürich, fühlte er sich hier gebraucht und am richtigen Platz.
Anouk beneidete ihn um dieses Gefühl. Sie würde einfach durch ein anderes Model ersetzt werden, wenn sie nicht bald wieder verfügbar war. Das Modelbusiness war schnelllebig und sprunghaft. Seitdem sie mit neunzehn einen Modelnachwuchswettbewerb gewonnen und daraufhin das Gymnasium geschmissen hatte, war sie ständig unterwegs gewesen. Sie kannte zwar viele Leute, aber nur oberflächlich. Nur Julia war ihr durch die Jahre hindurch eine wahre Freundin gewesen – und ihr gemeinsames Loft Anouks eigentliches Zuhause. Sie hatte sich immer darauf gefreut, ein paar freie Tage in Zürich verbringen zu können, bevor das nächste Shooting anstand. Doch jetzt war Julia tot. Und damit auch die einzige Person, die Anouk Halt gegeben hatte. Gewiss, ihre Eltern waren immer für sie da. Auch ihre Schwester Aimée würde sofort kommen, wenn sie nach ihr riefe, aber sowohl ihre Schwester als auch ihre Eltern führten ihr eigenes Leben. Anouk war jetzt vierundzwanzig. In diesem Alter hatte ihre Mutter bereits zwei Töchter großgezogen; Aimée war im gleichen Alter verheiratet und schwanger gewesen. Und was hatte sie vorzuweisen? Eine dicke Fotomappe, eine Setcard und einen Pass mit exotischen Stempeln. Ein paar Jahre lang würde sie den Job noch machen können. Und dann? Sie hatte keine Ausbildung, keine Freunde, keine Perspektive. Anouks Augen füllten sich mit Tränen.
»Toll, ein bisschen Selbstmitleid zu nächtlicher Stunde bringt einen so richtig in Stimmung«, murmelte sie und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Sie ging zurück ins Schlafzimmer, legte sich aufs Bett und starrte an die Decke. Das Gewitter war schwächer geworden, und der Regen prasselte jetzt gleichmäßig und monoton gegen die Fensterscheiben. Wäre dieses halbe Jahr, das sie mit ihrer Großtante verbringen würde, ein Wendepunkt für sie? Gaben ihr diese sechs Monate Zeit, um ihrem Leben eine andere Richtung und eine neue Perspektive zu geben? Sie war noch jung, sie konnte noch alles erreichen, sie musste nur herausfinden, was sie wollte.
Als sie das zweite Mal die Augen aufschlug, schien die Sonne durch einen Gardinenspalt ins Zimmer. In dem hellen Lichtstreifen tanzten Staubpartikel. Eine Schar Amseln stritt sich lautstark im Baum vor ihrem Fenster. Anouk streckte ihre Arme über dem Kopf aus und gähnte. Der Kopfschmerz hatte sich zu einem dumpfen Pochen zwischen ihren Augen zusammengezogen. Sie presste einen Moment Daumen und Mittelfinger darauf. Ich muss weniger trinken, nahm sie sich vor. Die zweite Flasche, die Max gestern Abend mitgebracht hatte, hatte sie allein geleert. Dementsprechend pelzig fühlte sich ihre Zunge an. Anouk stand auf und öffnete das Fenster. Das Gewitter hatte die Luft rein gewaschen. Der Geruch von nassem Asphalt und zerquetschten Regenwürmern lag in der Luft. Bei diesem Gedanken musste sie daran denken, dass ihre Großtante Gespräche mit Ameisen führte. Sie hatte vorgehabt, Max danach zu fragen, hatte aber am gestrigen Abend keine Gelegenheit gefunden, ihn unter vier Augen zu sprechen. Sein Handy hatte plötzlich geklingelt, und er war nach einer kurzen Entschuldigung hastig aufgebrochen. Ein Notfall? Oder ein Anruf seiner Freundin? Der letzte Gedanke ließ sie die Stirn runzeln. Über dieses Thema hatten sie nicht gesprochen. Auch Tati Valerie hatte dazu nichts verlauten lassen, obwohl sie doch meist über alles Bescheid wusste, was im Dorf vorging. Aber was ging es sie überhaupt an, ob der Dorfarzt mit jemandem liiert war oder nicht?
Es war erst sieben Uhr. Verwandelte sie sich hier in Seengen etwa noch in eine Frühaufsteherin? Sollte sie etwas lesen? Oder lieber einen Spaziergang machen? Anouk beschloss, eine Runde joggen zu gehen. Die Bewegung würde ihr guttun und auch den Kopfschmerz vertreiben. Sie zog den neuen Trainingsanzug, den sie sich gestern in Lenzburg gekauft hatte, aus der Plastiktüte und schlüpfte hinein. Das Zähneputzen vertrieb zum Glück den letzten Rest Weinaroma in ihrem Mund, und als sie ins Freie trat, fühlte sie sich schon besser.
Es herrschte reger Verkehr. Die Berufstätigen fuhren um diese Zeit zur Arbeit
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