Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Krankenblatt und läutete seiner Sprechstundenhilfe. Trotzdem kehrte er in Gedanken noch einmal zur Großnichte seiner Patientin zurück. Er freute sich auf den heutigen Abend. Anouk Morlot forderte ihn auf eine Weise heraus, die ihn ebenso fesselte, wie sie ihn beunruhigte. Und er war gespannt, welches der beiden Gefühle die Oberhand gewinnen würde.
Pünktlich um halb sieben klingelte es an der Haustür. Anouk zupfte sich eine Haarsträhne vor ihre Narbe und setzte ihr schönstes Lächeln auf.
»Herr Doktor Sandmeier, welche Freude, Sie wiederzusehen!«, flötete sie, hielt dem verblüfften Arzt die Tür auf und ließ ihn eintreten.
»Ja, mich freut es auch … sehr«, stammelte dieser, offensichtlich mehr als überrascht, so freundlich von ihr empfangen zu werden.
»Dann herein in die gute Stube!« Anouk schloss die Tür, quetschte sich an dem Arzt vorbei und ging ihm durch den Flur auf die Terrasse voraus. »Meine Großtante kommt sofort, sie pudert sich nur noch die Nase. Möchten Sie mir vielleicht den Wein geben?«
Doktor Sandmeier sah auf die beiden Flaschen, die er in den Händen hielt, als hätte ihm jemand zwei fremde Säuglinge in die Arme gelegt.
»Natürlich, hier.«
Anouk verbiss sich ein Lachen. Sie räusperte sich und nahm sich vor, tatsächlich etwas liebenswürdiger mit ihrem Gast umzugehen. Ihre Großtante würde sie sonst womöglich rauswerfen.
»Setzen Sie sich doch! Möchten Sie einen Aperitif?«
»Nur ein Glas Wasser, bitte. Und sagen Sie doch Max zu mir. Schließlich sind Sie nicht meine Patientin.«
Er lächelte. Anouk registrierte mit Verwunderung, wie gutaussehend er war, wenn er nicht so ein ernstes Gesicht machte. Seine haselnussbraunen Augen und seine weißen, regelmäßigen Zähne, deren Regulierung seine Eltern vermutlich Unsummen gekostet hatte, waren ihr im Zug schon aufgefallen. Und während er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, nutzte sie die Gelegenheit, auch noch einen raschen Blick auf seine Hände zu werfen. Gepflegte Arzthände – natürlich – mit langen, schlanken Fingern. Feine Äderchen überzogen seine Handrücken. Er trug weder einen Ring noch eine Uhr. Gekleidet war er eher nachlässig. Eine verwaschene Jeans und ein kurzärmeliges Hemd, das so aussah, als hätte er es schon als Student getragen.
»Zufrieden?«
Anouk räusperte sich. »Bitte?«
»Mit der Musterung«, erwiderte der Arzt und zog spöttisch einen Mundwinkel nach oben. »Ich bin vermutlich nicht der Weltgewandteste, aber blind bin ich deshalb noch lange nicht.«
Anouk lachte. Etwas zu laut, da sie sich ertappt fühlte. Sie streckte ihm die Hand hin. »Hallo, Max, ich bin Anouk … und eigentlich ganz nett.«
Ein ohrenbetäubendes Krachen riss Anouk aus dem Schlaf. Wo zum Teufel war sie? Bei Tati Valerie – natürlich. Verfluchter Wein! Die grünen Digitalziffern des Weckers standen auf zwei Uhr fünfundvierzig. Anouk schlug die Bettdecke zurück und tappte, ohne das Nachttischlämpchen anzuknipsen, ins Badezimmer. Irgendjemand hatte ihr erzählt, dass es nicht ratsam sei, im Halbdunkel in den Spiegel zu blicken. Denn dann sähe man sein wahres Ich darin. Und wenn alle Selbstlügen fielen, sei schon mancher wirr im Kopf geworden. Obwohl sie nicht abergläubisch war, steuerte sie gesenkten Kopfes am Badezimmerspiegel vorbei und setzte sich auf die Toilette.
Draußen tobte ein Sommergewitter: Bäume bogen sich unter Windböen, Regen klatschte gegen die Fenster, Blitze erhellten gelbdunkle Wolken. Erneut ließ ein Donnerschlag die Fensterscheiben klirren. Anouk griff sich an die Stirn; sie hatte rasende Kopfschmerzen, und ihre Kehle war so trocken wie eine Wüste. Sie stand auf, öffnete den Spiegelschrank und kramte blind nach einem Aspirin. Mit der hohlen Hand schöpfte sie etwas Wasser und würgte die Tabletten hinunter.
Der Abend war, wider Erwarten, recht unterhaltsam verlaufen. Max Sandmeier konnte wunderbar Geschichten erzählen und hatte die Morlot-Frauen damit mehrfach zum Lachen gebracht. Den Schrullen der Landbevölkerung gewann er unter humoristischen Gesichtspunkten das Beste ab. Er lobte seine Patienten ob ihrer Standhaftigkeit bei Schmerzen. Max hatte vor ein paar Jahren seine gut florierende Arztpraxis in einem Zürcher Nobelviertel aufgegeben, weil ihm die dortigen Kranken auf die Nerven gefallen waren. Die bräuchten gar keinen Arzt, hatte er gesagt. Ihre Wehwehchen wären meist nur eingebildet und dazu da, sie über ihre langweiligen Tage
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