Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
schleichenden Wagen zu überholen. Nachdem sie ihrer Großtante beim Ausziehen des gelben Kostüms geholfen hatte, genehmigte sie sich noch einen Schluck Amaretto. Danach setzte sie sich auf die Veranda, entledigte sich ihrer unbequemen Stöckelschuhe und zündete sich eine Zigarette an.
Die Nachtluft war angenehm warm, gleichwohl kuschelte sich Anouk in die Decke, die auf der Bank bereitlag, zog die Füße an und betrachtete den Vollmond. Die Ereignisse im Schloss begannen zu verblassen, je mehr sie sich von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit einverleibte. Plötzlich fand sie das Ganze sogar komisch. Julia hätte sich köstlich darüber amüsiert.
Anouk zuckte zusammen, und der Amaretto schwappte auf die karierte Decke. Geist? Botschaft? Ob ihre Freundin etwa …? Anouk keuchte. Natürlich! Julia wollte ihr mit der Erscheinung etwas mitteilen. Etwas über den Unfall, über Anouks Schuld? Vielleicht irrte Julias Seele ja in einer Art Zwischenreich umher und konnte erst zur Ruhe kommen, wenn sie, Anouk, Sühne geleistet hatte. Doch wie sollte sie das anstellen? Sollte sie ihr Leben den Bedürftigen und Armen widmen? Nach Afrika gehen und missionieren? Der Alkohol stieg ihr bitter die Kehle hoch. Oder hatte ihr die Erscheinung bereits den entscheidenden Hinweis gegeben, und sie hatte ihn nur nicht deuten können? So musste es sein! Die Verse und die Frau auf den Zinnen waren Botschaften aus dem Jenseits! Max hatte recht gehabt mit seiner kurz zuvor geäußerten Vermutung. Und sie hatte ihn deswegen wütend abgekanzelt.
Anouk bekam eine Gänsehaut. Die Schatten unter den Birken schienen auf einmal zu wachsen und näher zu kommen. Die Zweige der Forsythien sahen plötzlich wie Skelettfinger aus, die sich bedrohlich nach ihr ausstreckten. Eine Maus lief über die Veranda, und Anouk schrie erschrocken auf. Sie strampelte die Decke von den Beinen, hastete ins Haus und verriegelte mit zitternden Händen die Haustür. Dann stürzte sie die Treppe hoch, zog sich das Kleid über den Kopf und warf es in eine Ecke. Bevor sie unter die Bettdecke schlüpfte, schluckte sie zwei Schlaftabletten. Kurz dachte sie noch an die Frau im roten Kleid. Ob das tatsächlich Julia gewesen war? Dann verschwammen die Bilder zu einem einzigen farbigen Gemenge, und sie schlief ein.
Irgendwo im Haus fiel eine Tür ins Schloss. Anouk schreckte aus dem Schlaf. Durch die Vorhänge drang Sonnenlicht herein, ein Trecker fuhr rumpelnd am Haus vorbei, und vom Wohnzimmer drang Klaviermusik nach oben.
Anouk rieb sich die Augen. Sie fühlte sich völlig zerschlagen, so als hätte sie die ganze Nacht über Kohlesäcke geschleppt. Als sie die Beine aus dem Bett schwang, wurde ihr schwindlig. Tabletten und Alkohol waren noch nie eine gute Mischung gewesen.
Sie trat ans Fenster und zog die Gardinen zur Seite. Draußen herrschte strahlender Sonnenschein, so dass sie ihre Augen hastig mit der Hand beschirmte und sich abwandte. Geister und Botschaften? Absurd! Im hellen Tageslicht verloren die Ereignisse des gestrigen Tages ihren Schrecken. Anouk fuhr sich mit den Fingern durch die zerzausten Locken, steckte sie mit einem Kamm nach oben und ging die Treppe hinunter. Es war bereits nach zehn Uhr. Sie hatte gründlich verschlafen.
»Ich liebe die Malerei! Als junges Mädchen war es immer mein Traum, eine Akademie zu besuchen. Leider waren wir nicht vermögend genug, um … Ach, Liebes, schön, dass du da bist. Darf ich dir den Maler Gustav van der Hulst vorstellen? Ein wahrer Künstler!«
Valerie saß am Küchentisch, ihr gegenüber ein junger Mann mit rötlichen, etwas zotteligen Haaren und einer monströsen Pilotenbrille. Seine Kleidung war abgetragen und teilweise zerrissen. Als Anouk eintrat, sprang er auf, als hätte ihn jemand in den Hintern gestochen.
»Erfreut, Sie kennenzulernen.«
Sein Akzent deutete auf einen Franzosen oder Belgier hin. Wen zum Teufel hatte ihre Großtante da nun wieder aufgegabelt?
Tati Valerie hatte ein Faible für Straßenkünstler, die sie regelmäßig in ihr Haus einlud, um sie zu verköstigen. Ein paar dieser Gäste hatten in der Vergangenheit ihre Großzügigkeit jedoch dazu missbraucht, Geld, wertvolle Gegenstände und sogar Kleider mitgehen zu lassen. Anouk bedachte den Fremden daher mit einem prüfenden Blick. Aber der Mann schien ihr weder ein Dieb noch ein psychotischer Axtmörder zu sein; deshalb nickte sie ihm zu und holte sich einen Orangensaft aus dem Kühlschrank.
»Monsieur van der Hulst war ein Schüler der
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