Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
wenig über ihn und würde vermutlich auch nicht mehr über ihn erfahren, so, wie sie ihn gerade behandelt hatte. Der Gedanke daran schnürte ihr unvermittelt die Kehle zu. Sie wusste, dass sie ihm Unrecht tat, weil sie unentschlossen war und mit ihrer gesamten Situation nicht mehr zurechtkam. Mit Julias Unfall, den Stimmen und Erscheinungen und ihren Gefühlen für ihn. Max war stets hilfsbereit, behandelte Valerie trotz ihrer Krankheit mit Respekt und brachte ihr ehrliche Freundschaft entgegen. Immer hatte er ein offenes Ohr für die Anliegen der Morlot-Frauen. War es daher nicht recht und billig, dass sie auch einmal etwas für ihn tat? Ihm seinen Wunsch nicht abschlug und wenigstens versuchte, auf rein freundschaftlicher Basis mit ihm umzugehen?
»Gib deinem Herzen einen Stoß, Anouk!«, unterbrach er sie in ihren Gedanken und schaute sie dabei hoffnungsvoll an.
Sie zog die Nase kraus und kämpfte mit sich und ihrem schlechten Gewissen. Durch das Wohnzimmerfenster hindurch sah sie ihre Großtante, die mit dem ihr zugelaufenen Künstler debattierte. In einer Ecke stand eine Staffelei, daneben ein kleiner Tisch, der mit einem Wachstuch abgedeckt und mit Farbtuben übersät war. So schnell würde der Belgier sie vermutlich nicht verlassen. Und vielleicht wäre das Theaterspielen ja auch eine ganz nette Abwechslung für sie.
»Ach, was soll’s. Also gut, ich mach’s.«
Max strahlte. Mit zwei Schritten war er bei ihr und umarmte sie stürmisch.
»Danke«, sagte er, »dann hole ich dich also um sechs Uhr ab.« Er ließ sie los und lief zu seinem Wagen. »Du wirst es nicht bereuen!«, rief er noch über die Schulter, stieg ein und fuhr davon.
»Hoffentlich«, murmelte Anouk, griff nach der Limonade und tränkte damit die Geranien neben der Treppe.
Fröhlich pfeifend bog Max auf die Hauptstraße ein und fuhr Richtung Meisterschwanden davon. Gott sei Dank hatte Anouk sich erweichen lassen, Susannes Rolle doch noch zu übernehmen. Das Theaterstück lag allen am Herzen, und nicht nur die Schauspieler wären enttäuscht gewesen, wenn sie es hätten absagen müssen. Doch das war nicht der einzige Grund, weshalb er so gut gelaunt war. Obwohl Anouk ihn gebeten hatte, ihren Kuss am besten so schnell wie möglich zu vergessen, glaubte Max ihr nicht. Zu sehr hatte sie sich über sein schnelles Einlenken gewundert. Max wusste nicht viel über Frauen, aber dass sie manchmal etwas anderes sagten, als sie in Wirklichkeit meinten, hatte er schon des Öfteren erfahren. Und da ihm die kommenden Proben nun die Möglichkeit geben würden, weiterhin Zeit mit Anouk zu verbringen, nahm er sich vor, diesen kuriosen Umstand näher zu untersuchen. Ein Blick hinter die Fassade brachte nicht nur beim Theater gelegentlich neue Erkenntnisse. Und vielleicht fände er auf diese Weise auch gleich seine Herzdame, selbst wenn diese nur eine alte Magd spielte.
Die Sporthalle roch nach Magnesium, altem Schweiß und frisch gebohnertem Linoleum. Es befanden sich etwa zwanzig Leute verschiedenen Alters in dem Raum, als Anouk und Max kurz nach achtzehn Uhr eintraten. Die Laienschauspieler standen in Grüppchen zusammen und unterhielten sich angeregt. Als sie die Neuankömmlinge bemerkten, brachen die Gespräche abrupt ab. Anouk erkannte die Frau des Metzgers, die Bibliothekarin, die ihr einen eigentümlichen Blick zuwarf, und noch ein paar andere Leute aus dem Dorf.
»Hallo zusammen!«, rief Max und schob Anouk nach vorne. »Das ist Anouk Morlot, sie wird Susannes Rolle übernehmen. Somit sind wir wieder komplett und können durchstarten.«
Ein freudiges Gemurmel setzte ein. Die Anwesenden umringten Anouk wie eine Horde Wölfe ein vereinzeltes Schaf. Sie lächelte pflichtschuldig, schüttelte Hände und versuchte, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen. Zwischen ihren schweißigen Fingern mutierte das Skript langsam zu einem feuchten Lappen. Sie steckte es daher kurzerhand in die Gesäßtasche ihrer Jeans.
Auf der Fahrt zur Sporthalle hatte sie einen kurzen Blick hineingeworfen. Ihre Rolle hatte kaum Text, was sie ungemein erleichterte, aber sie musste bei einigen Szenen auf der Bühne präsent sein. Als schmückendes Beiwerk! Wieder mal.
Die Laienspielgruppe, so hatte ihr Max berichtet, war ein eingespieltes Team und studierte jedes Jahr ein neues Stück ein, das im Hof des Hallwyler Schlosses aufgeführt wurde. Die Einnahmen wurden der örtlichen Schule gespendet. Dieses Mal wurde ein unbekanntes Bühnenwerk eines ortsansässigen
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