Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Autors aus dem achtzehnten Jahrhundert inszeniert. Die Sprache war dementsprechend altertümlich, die Kostüme aufwendig, und die Proben fanden dreimal wöchentlich statt.
»Okay, Leute, stellt euch bitte für die erste Szene auf.« Max trat hinter ein schwarzes Pult, das mit diversen Knöpfen und Reglern gespickt war und aus dessen Rückseite eine Unmenge farbiger Kabel herausquoll. Er setzte sich auf einen Klappstuhl, blätterte in seinen Aufzeichnungen und gab dem Beleuchter ein Handzeichen.
»Anouk, du bleibst auf der rechten Seite, sagst deinen Text und gehst danach zu Rolf hinüber.« Der Genannte, ein Mann in den Fünfzigern mit einem Schnurrbart wie ein Walross, winkte ihr lächelnd zu. Sie nickte und rief sich noch einmal ihre Zeilen in Erinnerung. »Alle bereit? Dann los!«
Die Deckenbeleuchtung erlosch, gleichzeitig flammte in der Halle ein heller Lichtkegel auf, in dessen Zentrum ein Paar stand, das sich in den Armen hielt. Die Bibliothekarin schaute mit verschleiertem Blick zu ihrem Partner Nick hoch. Anouk unterdrückte ein Kichern.
Liebste, du warst in deinem Geist gewiss,
mich nicht auf ewig zu verlieren.
Gott wird daher im Paradies
uns wieder wissen zuzuführen …
Anouk glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Verzweifelt schnappte sie mehrmals nach Luft und sackte dann zu Boden.
Schloss Hallwyl, 1746
»Bringe Er seinem Herrn noch mehr Wein!«
Der Diener verbeugte sich und eilte zur Tür hinaus. Bernhardine sah Johannes dabei zu, wie er das Essen in sich hineinschaufelte, und schüttelte sich. Wie konnte ein einzelner Mensch nur solche Unmengen vertilgen? Kein Wunder, dass ihn die verschiedensten Gebrechen plagten. Doch heute Abend sollte er ruhig völlern und sich betrinken. Das kam ihr nur zupass. Sie selbst hatte keinen Hunger und schob den gebratenen Kapaun lustlos auf dem Teller herum. In ihrem Magen ging es drunter und drüber. Sie war voller Unruhe, doch nach außen hin gab sie sich gelassen. Niemand durfte Verdacht schöpfen.
Ächzend öffnete sich die Tür zur Vorhalle. Der Meier verbeugte sich unbeholfen und drehte seine Mütze zwischen den Händen.
»Was will Er?«, knurrte Johannes und wischte sich mit dem Mundtuch über die fettigen Lippen.
»Herr, Euer hochwohlgeborener Herr Bruder ist angekommen und bittet um Unterkunft.«
Johannes rülpste. »Gerold?«, fragte er ungläubig. »Was will der denn hier?«
Bernhardine fiel die Gabel aus der Hand. Ihr Schwager? Das fehlte ihr gerade noch! Seit dem Vorfall in ihrem Zimmer, als sie mit Désirée schwanger gewesen war, ging sie ihm bewusst aus dem Weg. Und während der Schwangerschaft mit den Zwillingen hatte sie sich sogar vor ihm versteckt, wenn er Johannes besucht hatte.
Gerold war das pure Gegenteil ihres Gatten. Ein schmächtiges, fast schon asketisches, frömmelndes Männchen, das hinter jeder Lebensäußerung die Versuchung des Teufels vermutete. Ihr während seiner missionarischen Tiraden in den Ausschnitt zu starren, schien ihm aber keineswegs blasphemisch zu sein. Gerold lebte auf der Trostburg, nur einen Tagesritt von Schloss Hallwyl entfernt, ließ sich aber – dem Himmel sei Dank! – nur selten bei ihnen blicken. Er verbrachte seine Tage damit, in der Bibel zu lesen, den Einwohnern seiner Gemeinde mit feurigen Reden über die Hölle und die Verdammnis auf die Nerven zu fallen und das Geld seines älteren Bruders für gefälschte Heiligenreliquien auszugeben. Ein Eheweib hatte er sich nie genommen, er ließ sich, wie gemunkelt wurde, seine Gelüste aber dennoch gern von einer hübschen Küchenmagd befriedigen, die er, wenn er ihrer überdrüssig geworden war, mit Schimpf und Schande von der Burg jagte. Meist mit dem Vorwurf, sie sei ihm vom Teufel gesandt worden, um seine unsterbliche Seele zu verderben. Dass er seinen Verwandten gerade heute einen Besuch abstattete, kam Bernhardine äußerst ungelegen. Was, wenn er das Nachtmahl dazu benutzte, ihnen die Qualen des Fegefeuers darzulegen? Bernhardine war im reformierten Glauben erzogen worden. Aber das hinderte Gerold nicht daran, sein mittelalterlich religiöses Weltbild zu proklamieren. Er konnte stundenlang über das Partikulargericht schwafeln. Und wenn sich seine Zuhörer dann so sehr gruselten, dass sie kaum mehr wagten, im Dunklen den Abort aufzusuchen, blühte er erst so richtig auf. Ihr Schwager war nur glücklich, wenn er andere unglücklich machen konnte. Sie hoffte inniglich, der Ritt hätte ihn so sehr erschöpft, dass er sich bald zurückziehen
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