Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
heftiger Windstoß ließ die Kerzenflamme flackern. Bernhardine warf einen ärgerlichen Blick über die Schulter. Die Schlosskapelle war nur den Herrschaften vorbehalten. Im Zwielicht konnte sie die Gestalt nicht deutlich ausmachen. Die stand reglos in der Nische, wo sich der Klingelbeutel befand. Handelte es sich etwa um einen Dieb?
»Wer da?«, fragte sie forsch. »Gebe Er sich zu erkennen!«
»Die schöne Reande saß einsten alleine, und seufzte von Herzen nach ihrem Galan. Inzwischen kam Lamus und hörte dies an, und sagte: Mein Kindgen, wohlan, ich erscheine, damit sich mein Herze mit deinem vereine.«
Bernhardine schnappte nach Luft. Eine Eiseskälte zog mit einem Mal durch ihr Herz, gleichzeitig jagten siedendheiße Schauer durch ihren Körper. Cornelis!
Sie kämpfte sich aus ihrer knienden Position hoch, wollte etwas sagen, ihn fortschicken, hinauswerfen, doch über ihre Lippen kam nur ein erstickter Laut. Mit zwei Schritten war der Holländer bei ihr und griff nach ihren Händen.
»Herrin!«, rief er stürmisch. »Geliebte Herrin. Endlich!«
Er fiel auf die Knie und presste ihre kalten Finger an seine Wange.
Cornelis’ Haut war heiß, als hätte er Fieber. Im Kerzenschein leuchteten seine blauen Augen wie Eiskristalle im Mondlicht.
»Cornelis …«, sie räusperte sich. »Meister van Cleef. Ich bitte Euch, erhebt Euch und bewahrt Contenance! Ich bin eine verheiratete Frau.«
Der Maler senkte den Blick, ließ aber ihre Hände nicht los. Plötzlich presste er mit einem leisen Stöhnen seine Lippen auf ihre Finger. Bernhardine entfuhr ein spitzer Schrei. Ihr Herzschlag verdoppelte sich, und sie begann zu zittern.
»Darf ich denn hoffen, verehrte Dame?« Cornelis erhob sich endlich und schaute sie bittend an. »Sagt es mir. Jetzt! Ich muss es wissen. Zu schwer sind meine Nächte, zu bitter die Tage, an denen ich Euch nicht sehen kann. Wenn aus Eurem süßen Mund ein Nein kommt, werde ich mich entfernen. Denn wer kann stetig in die Sonne blicken, ohne zu erblinden?«
Draußen heulte ein Hund. Ein Männerlachen schallte über den Schlosshof. Bernhardine erbebte. Wenn Johannes in die Kapelle käme … ihr wurde übel bei diesem Gedanken.
»Madame, bitte, eine Antwort.«
Cornelis stand kaum eine Handbreit von ihr entfernt. Auf seinem Umhang glitzerten Regentropfen. Er roch nach Ölfarbe und nach Pferd.
»Morgen. Eine halbe Stunde nach dem Nachtgeläut werde ich hier auf Ihn warten.«
Seine Augen strahlten, ein Lächeln flog über sein Gesicht, und er nickte. Dann hauchte er ihr einen Kuss auf die Wange, ging zur Tür und schlüpfte aus der Kapelle.
Bernhardine legte langsam ihre Hand an die Stelle, wo sie vor ein paar Sekunden noch Cornelis’ Lippen berührt hatten. Sie zitterte. Ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander, und sie fror entsetzlich. Sie bückte sich, nahm ihr Gebetbuch von der Holzbank und verließ die Kapelle. Bevor sie die Tür schloss, warf sie jedoch noch einen Blick zum Altar zurück: Der Heiland schien ihr direkt ins Herz zu sehen.
7
Seengen, 2010
D ie Konzertbesucher strömten aus dem geöffneten Schlosstor. Die meisten hatten ein Lächeln auf dem Gesicht und unterhielten sich angeregt über die Vorstellung. Als der Fluss ins Stocken geriet und etwas Gelbes im Durchgang sichtbar wurde, stieß Anouk Max mit dem Ellbogen an und wies mit dem Kopf zum Eingang hinüber. Max riss die Augen auf und fing an zu husten. Anouk bahnte sich einen Weg zu ihrer Großtante.
»Da bist du ja, Liebes!«, rief Valerie gut gelaunt und spielte mit ihrem Fächer. »War das Konzert nicht atemberaubend?«
Anouk wollte schon etwas erwidern, ließ es aber und nickte nur.
»Schau mal, wer letztendlich doch noch gekommen ist!«
Max beugte sich über Valeries Hand und deutete einen Handkuss an. »Madame, Sie sehen heute wieder formidable aus.«
Anouks Großtante kicherte geschmeichelt. »Sie alter Schwerenöter«, gurrte sie.
Sie drehte sich um die eigene Achse, und ihre Augen leuchteten plötzlich, als sie jemanden in der Menschenmenge entdeckte. Sie hob die Hand und winkte. Ein hochgewachsener, braungebrannter Herr mit silbernem Haar kämpfte sich durch die Konzertbesucher hindurch auf sie zu.
Anouk erinnerte sich vage an ihn. Es handelte sich um einen von Valeries Bekannten, dessen Namen sie jedoch vergessen hatte.
»Valerie, schön, dich zu sehen.« Der Herr hauchte ihrer Großtante einen Kuss auf die Wange. Als er sich wieder aufrichtete, streifte sein Blick Anouk. Die spürte ein
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