Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Hallwyl, 1746
Das Tor zum Palas wurde aufgerissen. Johannes’ Wolfshunde und eine Wolke wirbelnder Schneeflocken stoben in die Vorhalle, dahinter schälte sich ihr Gatte aus dem Zwielicht des späten Nachmittages. Johannes klopfte den Schnee von seinem Hut, schüttelte sich und trat zum Kamin. Dabei mied er Bernhardines Blick, die seit Stunden vor dem Eingang zur Halle auf und ab gegangen war.
»Johannes?«, fragte sie hoffnungsvoll. Sie knetete unentwegt ihre Hände, blieb ansonsten aber völlig reglos vor ihm stehen. Er drehte sich um, hob kaum merklich die Schultern und schüttelte den Kopf. Sie biss sich in die Faust. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Nicht eine Spur? Irgendjemand muss doch etwas gesehen haben. Wie kann ein Kind aus einem Wasserschloss verschwinden? Désirée hat doch keine Flügel!«
Sie lachte hysterisch. Der Laut brach sich an den Steinwänden der Vorhalle. Johannes schreckte zusammen und starrte in die Flammen. Von seinem Mantel tropfte Schmelzwasser. Hector schlich herbei und leckte die Pfütze auf. Mit einem ärgerlichen Fußtritt verscheuchte ihn sein Herr.
»Ich denke«, begann er stockend, »dass das Kind – im Fieberwahn – aufs Fensterbrett geklettert ist. Und dann …« Er brach ab und strich sich mit einer müden Geste über die Stirn. »Ihr wisst selbst, unter der Kammer fließt der eiskalte Aabach vorbei.«
Bernhardine griff sich an den Hals.
»Aber sie ist doch noch so klein. Wie sollte sie …?«
Johannes seufzte. »Der Meier hat den ganzen Wasserlauf bis zum Köhlerhaus absuchen lassen. Nichts. Weder im Mühlekanal noch im Abfluss. Keine Fußspuren, kein weißes Nachthemd, nicht das geringste Zeichen.«
Plötzlich wandte er sich zu ihr um und schlug den nassen Hut gegen seinen Oberschenkel. Seine Augen blitzten, er straffte die Schultern und trat drohend einen Schritt auf Bernhardine zu.
»Was seid Ihr nur für eine Mutter, Madame!« Er spuckte das Wort aus, als wäre es giftig. »Euer Kind ist krank, und Ihr schlummert zufrieden unter Euren weichen Daunen. Anstatt, wie es Eure heilige Mutterpflicht gewesen wäre, bei ihm zu wachen. Geht mir aus den Augen! Ihr, Ihr …«
Er beendete den Satz nicht, sondern drehte sich um und stürmte davon. Die Hunde folgten ihm.
Bernhardine starrte durch einen Tränenschleier auf die Stelle, an der ihr Gatte soeben noch gestanden hatte. Der Boden glänzte vor Nässe. Nebenan fiel eine Tür krachend ins Schloss. Bernhardines Brust schmerzte. Sie fing an zu röcheln. Tot? Ihre süße kleine Tochter tot? In den eisigen Fluten des stinkenden Baches ertrunken? Das konnte nicht sein! Das durfte nicht sein! Johannes irrte sich gewiss, und auch der Meier musste sich irren. Désirée hatte sich nur irgendwo in diesem vermaledeiten Schloss verlaufen. Sicher rief sie schon nach ihr und weinte sich vor lauter Angst die Augen aus. Da! War da nicht ein leises Wimmern zu hören? Bernhardine lauschte angestrengt. Doch sie vernahm nur das Knacken der Holzscheite im Kamin und das Heulen des Schneewindes. Aber sie würde Désirée finden. Sie war schließlich ihre Mutter. Und Cornelis würde ihr dabei helfen. Er verstand sich doch so gut mit der Kleinen. Auf sein Rufen würde sie antworten. Bernhardine drehte sich um, raffte ihr Kleid und rannte hinaus Richtung Westbau.
Der Schneesturm entriss ihr das Schultertuch, als sie die Pforte zur vorderen Burg öffnete. Die wirbelnden Eiskristalle fielen spitz wie Nadeln auf die Haut oberhalb ihres Dekolletés. Sie hielt sich schützend eine Hand vor die Augen. Durch das Schneegestöber hindurch konnte sie gerade noch die Schlosskapelle, die angrenzende Scheune und das Kornhaus auf der linken Seite erkennen. Die Pferdeställe und den Westbau, in dem Cornelis untergebracht war, vermochte sie hinter der weißen Wand nur zu erahnen.
Der Wind verfing sich in ihrem Kleid, blähte es auf und ließ es wie ein Segel flattern. Sie stemmte sich gegen den Sturm und stapfte auf Cornelis’ Unterkunft zu. Nässe drang durch ihre Schuhe und ruinierte den feinen Damast. Eine Windböe riss ihr die Haube vom Kopf. Sie wollte noch nach ihr greifen, fasste jedoch ins Leere, weil der Wind sie bereits in einem kreiselnden Tanz davongetragen hatte. Bernhardines rote Locken wirbelten wie züngelnde Schlangen um ihr Haupt und nahmen ihr die Sicht. Von fern vernahm sie das Läuten einer Glocke, ansonsten waren nur das Heulen des Windes und ihr eigenes Keuchen zu hören. Nach einer Ewigkeit erreichte sie endlich den
Weitere Kostenlose Bücher