Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
auf. »Ich bin nicht der mutige Held, den sich ein adliges Fräulein in ihren Träumen ausmalt. Oder der tapfere Prinz auf einem weißen Ross, der seine Holde aus den Klauen des Ungeheuers befreit. Ich bin nur ein Künstler.«
Er schaute bei diesen Worten auf seine Hände hinab, die voller Farbreste waren. Bernhardine schluckte. Sie wusste, dass er recht hatte. Es waren kindische Träume, von denen sie für einen kurzen Moment geglaubt hatte, dass sie wahr werden könnten. Aber niemand konnte seinem Schicksal entfliehen. Im Grunde hatte sie das immer gewusst. Doch die flüchtigen Stunden in der Kapelle hatten sie für die vergangenen Jahre und für die, die noch vor ihr lagen, entschädigt. Endlose Jahre, die sie in diesem düsteren Schloss an der Seite eines alten Mannes würde verbringen müssen, bis sie der Herr zu sich rief. Sie hatte kein Recht, dem Holländer die Schuld an ihrem Fehltritt zu geben. Sie war genauso schuldig wie er – möglicherweise sogar noch mehr.
Bernhardine stand auf und trat hinter Cornelis, der mit leerem Blick durch die Scheibe starrte. Sie schlang beide Arme um seinen Leib und presste ihr Gesicht an seinen Rücken. Die Hitze seiner Haut war durch das Leinenhemd hindurch zu spüren. Cornelis duftete nach Ölfarbe, Terpentinöl und Moschus. Die Erinnerung durchfuhr sie heiß. Für einen Moment schwankte sie, dann räusperte sie sich.
»Komm!«, sagte sie und wandte sich zur Tür. »Wir müssen Désirée suchen.«
11
Seengen, 2010
M öchten Sie etwas essen?«
Anouk tauchte aus ihrer Gedankenwelt auf wie ein Schatzsucher aus der Tiefsee. Sie blickte in die fragenden Augen der Bedienung und runzelte verwirrt die Stirn.
»Bitte?« Dann aber bemerkte sie, dass alle Tische im Café bereits fürs Mittagessen eingedeckt waren. Die Uhr hinter dem Tresen zeigte Viertel vor zwölf. »Nein, danke«, erklärte sie und schob hastig die Papierschnipsel zusammen. »Die Rechnung, bitte.«
Der Himmel hatte aufgeklart. Anouk klemmte sich den Schirm unter den Arm und suchte in ihrer Handtasche nach ihrem Handy. Sie wollte Max anrufen und ihn bitten, nochmals sein Laptop benützen zu dürfen. Mit gesenktem Kopf lief sie durchs Dorf, bis sie unsanft gegen einen Passanten prallte. Ihre Louis-Vuitton-Tasche flog in hohem Bogen in eine Pfütze.
»Können Sie denn nicht aufpassen?«, knirschte Anouk mit zusammengebissenen Zähnen.
Sie bückte sich nach der triefenden Ledertasche. Während sie sich wieder aufrichtete, wanderte ihr Blick an einer dunkelblauen Leinenhose, braun gebrannten Armen und einer gestreiften Krawatte entlang in die Höhe.
»Anouk? Entschuldige, ich war in Gedanken.«
»Oh, Herr Rufli …« Sie legte den Kopf in den Nacken und lächelte erfreut zum Kurator hoch. »Keine Gemäldeausstellung zu organisieren?«
Valeries Jugendfreund lachte und zeigte dabei eine Anzahl perfekt gearbeiteter Jacketkronen.
»In der Tat, junge Dame«, entgegnete er, »sobald das Theaterstück aufgeführt worden ist, wird im Schloss eine Vernissage stattfinden.«
Junge Dame? Sie hob amüsiert die Augenbrauen.
»Wie ich gehört habe«, fuhr der Kurator fort und zwinkerte ihr dabei schelmisch zu, »hat das dörfliche Ensemble dieses Jahr einen berühmten Gaststar verpflichten können.«
Anouk lächelte säuerlich. »Star ist gut«, meinte sie und hielt die tropfende Handtasche auf Armeslänge von sich. »Ich werde mich sicher bis auf die Knochen blamieren.«
»Aber nicht doch. Wenn du das Talent deiner Großtante geerbt hast, wird dir ganz Seengen zu Füßen liegen.«
Anouk wiegte zweifelnd den Kopf, fühlte sich aber komischerweise getröstet.
»Für die Provinz wird’s schon reichen«, entfuhr es ihr.
Sie verstummte. Das hätte sie besser nicht sagen sollen, es war sehr unhöflich von ihr gewesen. Ruflis Augenbrauen zogen sich daraufhin denn auch für einen Moment zu einem durchgehenden Strich zusammen. Doch sogleich entspannten sich seine Gesichtszüge wieder.
»So, ich muss weiter«, sagte er nach einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr. »Grüße bitte Valerie von mir! Ich werde sie in den nächsten Tagen einmal anrufen.«
Vom Kirchturm schlug es zwölf. Sie wandten beide den Kopf, dabei streifte Rufli Anouks Arm.
»Abi in malam crucem!«
»Bitte?«, fragte sie verwirrt.
»Wie?« Der Kurator hatte sich bereits umgedreht und schaute über seine Schulter zurück.
»Sie haben noch etwas zu mir gesagt.«
»Ich? Nein. Nur, dass du deine Großtante grüßen sollst.« Doch sein Tonfall war
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