Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
eine Spur zu beiläufig, als dass sie ihm geglaubt hätte.
»Aber …«
»Tut mir leid, Anouk, ich würde ja gerne noch etwas mit dir plaudern, aber ich habe einen wichtigen Termin.«
Der Kurator blinzelte und zeigte wieder sein Gebiss, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte und davoneilte.
Anouk schaute ihm verblüfft hinterher. War das etwa Latein gewesen? Jetzt rächte sich, dass sie diese Sprache nie gelernt hatte. Ihr knurrender Magen erinnerte sie daran, dass Tati vermutlich mit dem Mittagessen auf sie wartete. Anouk schüttelte den Kopf. Alte Leute wurden eben wunderlich. Sie wandte sich um und schritt zügig aus. Plötzlich dachte sie an den Anruf. Jetzt hatte sie doch tatsächlich vergessen, Rufli zu fragen, was er von ihr gewollt hatte.
»Zu allem Übel auch noch vergesslich!«, murmelte sie. »Das Leben ist doch schön.«
Der Maler und Valerie saßen bereits beim Essen, als Anouk eine Viertelstunde später in die Küche platzte. Ihre Großtante hatte sich eine rot karierte Küchenschürze über ihr gelbes Baiserkostüm gebunden, was ihr das Aussehen einer verkleideten Pampelmuse verlieh. Es gab Bratwurst mit Rösti. Anouk lief das Wasser im Mund zusammen. Bei Tatis Kochkünsten würde es sicher nicht länger als einen Monat dauern, bis sie ihr altes Gewicht wieder erreicht hätte, wenn nicht sogar noch ein paar Kilos darüber hinaus.
»Entschuldigt bitte die Verspätung!«, keuchte sie und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Mir lief die Zeit davon.«
Ihre Großtante quittierte die Entschuldigung mit einem Augenrollen, der Maler grinste dümmlich. Anouk häufte sich einen riesigen Berg Rösti auf den Teller. »Übrigens habe ich vorhin den Kurator im Dorf getroffen. Er lässt grüßen.«
Valeries Augen wurden groß. »Herbert?«, fragte sie. Anouk nickte. »Komisch, soweit ich weiß, ist er diese Woche doch außer Landes. Bist du sicher?«
»Aber ja, Tati, wir haben ja miteinander gesprochen. Wie sollte ich dir sonst Grüße von ihm ausrichten können?«
Ihre Großtante schürzte die Lippen. »Natürlich, wie dumm von mir«, murmelte sie, »da habe ich wohl etwas falsch verstanden.«
Valerie lud dem Belgier eine zusätzliche Portion Rösti auf den Teller, ohne seinen Protest auch nur ansatzweise zu beachten. Der Maler resignierte und widmete sich, nachdem er den Knopf an seinem Hosenbund geöffnet hatte, weiter seiner Mahlzeit. Anouk schmunzelte. Der würde vermutlich schon nach einer Woche nicht mehr in seine Garderobe passen.
»Wie läuft’s denn mit dem Porträt?«, fragte sie.
Über Valeries Gesicht lief ein Strahlen. »Du musst es dir unbedingt anschauen, Liebes. Monsieur van der Hulst ist ein wahrer Meister seines Faches!«
Sie legte dem Maler lächelnd die Hand auf den Arm. Dieser schreckte auf und hielt schützend seine Hände über den Teller, in der Angst, noch einen Nachschlag zu bekommen. Anouk lachte schallend, verschluckte sich und fing an zu husten.
Nach dem Kaffee entschuldigte sie sich und ging auf ihr Zimmer. Sie rief ihre Mutter an, die sich natürlich darüber beklagte, dass sie sich so selten bei ihr meldete. Beide vermieden es tunlichst, auf Julia zu sprechen zu kommen. Danach versuchte Anouk, ihre Schwester zu erreichen – ohne Erfolg. Sie nahm sich vor, es am Abend noch einmal zu versuchen. Kurz überlegte sie, auch Max anzurufen, doch vermutlich hatte seine Sprechstunde schon begonnen, und sie wollte ihn nicht bei der Arbeit stören. Anouk räumte ihre durchweichte Handtasche aus und legte sie zum Trocknen auf einen Stuhl. Die Papierschnipsel und ihren Spiralblock verstaute sie in der Nachttischschublade.
Im Zimmer war es stickig. Anouk öffnete ein Fenster und atmete tief durch. Der Hallwilersee schimmerte in den unterschiedlichsten Blautönen unter einer gleißenden Mittagssonne. Der regnerische Morgen hatte die Luft und die staubige Vegetation reingewaschen. Die fleischigen Blätter der Bergenien am Gartenzaun und der dahinterliegende Asphalt glänzten wie frisch poliert. Plötzlich schoss knapp vor ihrem Gesicht eine Krähe vorbei. Anouk zuckte erschrocken zurück.
»Mistvieh!«, murmelte sie und erinnerte sich unwillkürlich an deren aggressive Artgenossin auf dem Friedhof. »Kein Wunder, dass euch keiner mag!«, rief sie dem Vogel hinterher, der spöttisch krächzte und sich auf dem Briefkasten niederließ. Er plusterte seine Federn auf und äugte aufmerksam zur Brombeerhecke.
Anouk lehnte sich weit aus dem Fenster und blickte ebenfalls in Richtung der
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