Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
jetzt übersetzt?«
»Etwas, das ich von dir nicht hören möchte«, sagte er und zwinkerte ihr zu.
»Max!«
»Okay, okay …« Er hob abwehrend die Hände, als Anouk drohend auf ihn zukam. »Scher dich zum Teufel!«
»Sehr freundlich«, sagte sie und zog einen Flunsch.
Max grinste. »Du wolltest die Übersetzung doch hören. Das war sie. Abi in malam crucem heißt: Scher dich zum Teufel.«
»Bist du sicher?«, fragte sie ungläubig.
»Hundertprozentig. Warum? Möchtest du einen unerwünschten Verehrer in die Wüste schicken?« Er schmunzelte, wurde aber sofort ernst, als er ihren fassungslosen Gesichtsausdruck bemerkte. »Wer hat das denn zu dir gesagt?«
»Rufli«, beantwortete sie seine Frage und ließ sich seufzend auf die Bank fallen, die am Rande des Parkplatzes stand.
»Der Kurator?«
»Nein, der nächste Präsident der USA«, entgegnete sie bissig. »Ja, Tatis Charmebolzen.«
Max setzte sich neben sie. »Und warum sagt er so etwas zu dir?«
Anouk hob die Schultern. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist er senil … oder hat das Tourettesyndrom.«
Max lachte schallend. »Kaum. Professor Rufli ist eine der größten Koryphäen, wenn es um die Aargauer Geschichte geht. Er hat bedeutende Gemäldeausstellungen ins Schloss geholt, die im In- und Ausland hochgelobt wurden. Des Weiteren hat er letztes Jahr den Schweizer Historikerpreis mit seinem Buch über die Herren von Hallwyl gewonnen. Der Mann ist eine lebende Legende.«
»Mag sein, trotzdem redet er unflätiges Zeug.«
»Du hast ihn sicher falsch verstanden«, meinte er und kickte einen Stein über den Asphalt. »Oder er hat es zu jemand anders gesagt.«
Anouk schüttelte den Kopf. »Nein, aber was soll’s! Vielleicht ist der werte Professor einfach ein wenig verwirrt gewesen. In dieser Hinsicht passt er ja perfekt zu unserer Familie.« Sie versuchte zu lächeln, was ihr jedoch nicht so richtig gelang. »Aber das ist noch nicht alles, was heute passiert ist«, wechselte sie das Thema. »Schau …!«
In den nächsten Minuten zeigte sie ihm den Flyer, die Schnipsel, ihre Aufstellung der Ereignisse und die dazugehörenden Interpretationen. Von dem Mädchen erzählte sie ihm nichts. Es schien ihr nicht richtig. Weshalb, konnte sie jedoch nicht sagen. Als Anouk an die Kleine dachte, spürte sie ein leichtes Pochen an ihrem Oberschenkel. Sie griff in ihre Hosentasche und berührte den Kristall. Wieder vermeinte sie, ein Vibrieren zu spüren. Doch ihr blieb keine Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, denn Max schnellte plötzlich hoch und zog sie ebenfalls von der Bank.
»Komm«, sagte er aufgeregt, »lass das Fahrrad hier und steig ein! Mir kommt da eine Idee.«
Schloss Hallwyl, 1746
Ihre Schritte hallten dumpf in dem unterirdischen Gang. Es roch nach Moder und Feuchtigkeit. Bernhardine fröstelte. Ihre Stoffschuhe lösten sich langsam auf, und der Saum ihres Kleides starrte vor Spinnweben und Mäusekot. Bittere Galle stieg in ihrer Kehle hoch. Sie schluckte sie mühsam hinunter. Cornelis duckte sich. Der Korridor wurde niedriger. Die Fackel in seiner Hand zischte, als er damit an das durchnässte Mauerwerk stieß.
»Désirée!«, rief Bernhardine, doch es kam nur ein verzerrtes Echo zurück.
Sie war so müde, dass sie stolperte und hinfiel. Hart schlug sie auf dem glitschigen Boden auf und berührte dabei etwas Pelziges, das empört fiepte.
Normalerweise hätte sie laut aufgeschrien. Doch mittlerweile war ihr selbst ihre Angst vor Ratten abhandengekommen; wie auch die Hoffnung, noch ein Lebenszeichen von Désirée zu erhalten.
Seit Stunden irrten sie durch das Schloss. Doch hier, in den unterirdischen Gängen, die das Gemäuer wie Adern durchzogen, stand die Zeit still. An diesem Ort war sie nur ein Wort, dem keinerlei Bedeutung zukam.
Cornelis blieb abrupt stehen, und Bernhardine stieß gegen seinen Rücken. Sie taumelte und stützte sich am feuchten Mauerwerk ab.
»Was ist?«, flüsterte sie heiser.
Der Maler hielt die Fackel höher. Der Tunnel war zu Ende. Festes Gestein verhinderte jedes Weitergehen.
»Bernhardine …«
Cornelis verstummte, doch sie konnte aus diesem einen Wort all das heraushören, was er nicht sagte; sich nicht zu sagen getraute: Es ist sinnlos – wir müssen umkehren – das Kind kann unmöglich hier unten sein – es ist tot.
»Nein!«, schrie Bernhardine und fiel auf die Knie. »Désirée ist nicht tot!«
Johannes starrte auf die züngelnden Flammen im Kamin. Mit einem Knall zerplatzte ein Holzscheit,
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