Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
in den Sessel zurück.
Gerold betrachtete ihn aus schmalen Augen, verbeugte sich dann hölzern und sagte: »Wie Ihr meint, geliebter Bruder. Ganz wie Ihr meint.«
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verließ den Raum.
Johannes streckte die Hand aus. Seine Brust wurde wie von einem unsichtbaren Schraubstock zusammengedrückt. Ein jäher Schmerz fuhr durch seinen linken Brustkorb und versuchte, ihm das Herz aus dem Leib zu reißen. Er stöhnte, schnappte nach Luft, als würde ihn jemand unter Wasser drücken, und trommelte sich mit der Faust gegen das Brustbein. Als er bemerkte, wie sich eine schwarze Wand vor seine Augen schob, tastete er mit letzter Kraft nach der Messingglocke auf dem Beistelltisch.
Marie saß mit einer Strickarbeit neben der Wiege der Zwillinge, als Bernhardine den Raum betrat.
»Jesses Maria und Josef!«, rief sie entsetzt, als sie Bernhardine erblickte. »Wo bist denn du gewesen?«
Bernhardine strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Sie fühlte sich wie zerschlagen. Ihr lief die Nase, Kälteschauer wechselten mit Hitzewallungen. Ihr Kleid war fleckig, feucht und zerrissen, die Fingernägel eingerissen, und ihre Haare glichen einem Krähennest.
»Ich habe Désirée gesucht«, flüsterte sie. Ihr war auf einmal schwindlig. Sie stützte sich schwer auf die Kommode und lächelte. »Schnell, Marie«, sagte sie, und ihre Augen blitzten, »geh in die Küche! Sie sollen Apfelringe backen. Mit ganz viel Zimt und Honig. So, wie Dédée sie am liebsten mag. Der Duft wird sie aus ihrem Versteck locken.«
Marie runzelte verwirrt die Stirn, legte eine Hand über die Augen und schluchzte. Ihre Schultern bebten. Die Strickarbeit entfiel ihren Händen.
»Es ist meine Schuld«, stammelte sie, »ich hätte sie keinen Moment aus den Augen lassen dürfen. Wie soll ich nur weiterleben?«
Bernhardine zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen.
»Was schwatzt du da für dummes Zeug, alte Frau? Désirée wird gleich zurück sein. Sie ist ein braves Kind; sie wird Mama um Verzeihung bitten, und alles wird gut. Hurtig jetzt, beeil dich! Es …«
Der Rest des Satzes erstarb ihr auf der Zunge. Ein großes, schwarzes Loch schien sich vor ihr zu öffnen, in das sie hineingezogen wurde. Schwindel erfasste sie, zerrte sie hinab. Immer weiter und weiter, bis in die Hölle.
Ein beißender Geruch stach Bernhardine in die Nase, und ihre Lunge pumpte krampfartig Sauerstoff; sie hustete. Langsam kam sie wieder zu sich und fand sich in ihrem Bett liegend. Marie hielt das Riechfläschchen noch in der Hand und trat jetzt einen Schritt zurück. Hinter der Amme stand Cornelis. Er hatte den Kopf gesenkt.
»Entschuldige«, sagte Marie und rückte ihre Haube zurecht. »Ich musste Meister van Cleef rufen, um dich aufzuheben. Dein Gatte ist selbst bettlägerig, dein Schwager nicht auffindbar, der Meier noch unterwegs.«
Bernhardine warf einen Blick zum Fenster. Es war Nacht geworden. Ein Graupelschauer schlug an die Scheiben und blieb in den Ecken als weißer Saum auf dem Fensterbrett liegen.
»Was ist geschehen?«, fragte sie und richtete sich langsam auf. Ein stechender Schmerz schoss durch ihren Kopf. Sie fasste sich stöhnend an die Stirn.
»Ihr wurdet ohnmächtig, Herrin«, sagte Cornelis und hob den Blick. In seinen Augen lag Besorgnis. Ein dunkelbrauner Schmutzstreifen lief quer über seine Wange.
Bernhardine griff nach Maries Arm. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, und die Amme unterdrückte einen Schmerzensschrei.
»Désirée?« Marie und Cornelis schüttelten gleichzeitig den Kopf. Bernhardine ließ sich wimmernd in die Laken zurückfallen. »Warum?«, schrie sie. »Warum meine Kleine? Ich wünschte, ich wäre tot!«
Sie drehte sich auf die Seite und schluchzte.
»Dinchen«, flehte Marie. »Du musst jetzt stark sein! Dein Gatte ist krank. Er verlangt nach dir. Steh bitte auf!«
Bernhardine zog sich die Decke über den Kopf. Was ging sie der alte Mann an? Sie wollte ihre Tochter zurück. Sollte sich doch sein geliebter Bruder um Johannes kümmern, der mischte sich ja sowieso in alles ein. Ein schrecklicher Verdacht schlich sich unvermittelt in ihren Kopf. Ob Gerold etwas mit Désirées Verschwinden zu tun hatte? Sie traute ihrem Schwager jede Schlechtigkeit zu. Und hatte er ihr nicht gedroht? »Sie sollen deine Söhne und Töchter wegnehmen und das Übrige mit Feuer verbrennen.« Das waren seine Worte gewesen – aus dem Buch Hesekiel.
Sie schlug das Plumeau zurück. Diese bigotte Krähe! Aber
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