Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
sie würde dieses grässliche Subjekt zur Rede stellen. Und wenn es das Letzte war, was sie tat!
»Schnell, meinen Morgenmantel!«, befahl sie, und Marie atmete erleichtert auf. Sie reichte Bernhardine das gefütterte Gewand, das sich diese kurzerhand über ihr schmutziges Kleid anzog. »Komm mit!«, wandte sie sich an Marie. »Und Ihr, Meister van Cleef, ebenso! Ich werde jetzt zu Gerold gehen und brauche Zeugen. Ihr werdet aber beide vor der Tür warten, die ich einen Spalt offen lassen werde. Habt ihr mich verstanden?«
Marie erblasste. »Aber der Herr …«, stammelte sie, »er ist stark leidend.«
Bernhardine warf ihr einen eisigen Blick zu. »Er wird sich eben noch einen Moment in Geduld üben müssen«, erwiderte sie und stülpte sich eine Brokathaube über die Locken. »Und in den paar Minuten, die sich sein geliebtes Weib verspätet, schon nicht gleich sterben.«
Marie schüttelte resigniert den Kopf.
»Wie du meinst«, sagte sie und öffnete die Tür.
12
Seengen, 2010
D ürfen wir das denn?«
Anouk strich behutsam über ein in braunes Leder gebundenes Buch und warf Max einen fragenden Blick zu. Dieser stand vor einem Bücherregal, das bis zur Decke reichte, und studierte die Titel der dort aufgereihten Wälzer.
»Solange wir nichts beschädigen … sicher«, sagte er. »Ich kriege nur Ärger, wenn etwas fehlt.« Er zog ein dickes Buch mit farbigem Umschlag aus dem Gestell und nieste. »Hier!« Max legte das Buch auf einen Sekretär. Ein weißes Tuch schützte die Antiquität vor Staub. »Die Herren von Hallwyl. Die vollständige Familienchronik des Hallwyler Geschlechts von 1167 bis heute« war auf dem Einband zu lesen und auf dem Buchrücken der Name des Verfassers: Professor lic.phil.I, Kurator, Herbert Rufli.
Sie befanden sich in der Schlossbibliothek, die dem Publikum nach der letzten Renovierung erst vor kurzem wieder zugänglich gemacht worden war. Zwar war es den Besuchern nicht erlaubt, die Gegenstände zu berühren – das Mobiliar wurde durch dicke Kordeln, die an Messingständern befestigt waren, vor neugierigen Touristenhänden geschützt –, doch Max hatte einfach eine Absperrung entfernt. Anouk war nicht ganz wohl bei der Sache. Sie schaute ständig nach rechts und links, um nicht plötzlich von einem Wächter überrascht zu werden.
»Dann wollen wir mal«, sagte Max und blätterte in Professor Ruflis prämiertem Meisterwerk. »Wann, sagtest du, müsste sich das Ganze ereignet haben?«
Anouk zog ihren Spiralblock hervor. »Circa siebzehnhundertsechsundvierzig«, erwiderte sie und linste Max über die Schulter. Sie mochte sein Rasierwasser und musste sich beherrschen, um nicht an seinem Hals zu schnuppern. Sie schloss einen Moment die Augen und seufzte.
»Ist was?« Er musterte sie eindringlich.
»Nein, wieso?«
Anouk errötete. Max schüttelte den Kopf und beugte sich wieder über das Buch.
»Also«, er blätterte die Seiten mit dem Familienstammbaum durch, »hier sind die Familienmitglieder aus dem achtzehnten Jahrhundert aufgelistet. Ich nehme an, uns interessiert nur der Seenger Zweig. Die österreichischen und schwedischen Abkömmlinge können wir sicher vergessen.«
Anouk nickte, und Max fuhr mit dem Finger den Stammbaum entlang.
Johannes v.Hallwyl ( 1689 – 1746 ) & Viktoria v.Hallwyl. geb. Stackelberger (1691–1711)
Kinder:
Désirée v.Hallwyl
Burkhardt v.Hallwyl
Kaspar v.Hallwyl
Georg Dietrich v.Hallwyl (1711)
Geschwister von Johannes v.Hallwyl:
Burkhardt v.Hallwyl (1692–1693)
Wilhelm v.Hallwyl (1695–1715)
Gerold v.Hallwyl (1701–1766)
Georgette v.Hallwyl (1703–1715)
»Kein Bernhard und auch kein Huldrich«, murmelte Max. »Der Schlossherr hatte aber vier Geschwister, von denen einer Gerold hieß. Das ist doch ein Name, der sich auch unter deinen Papierschnitzeln befindet und …«
Anouk keuchte. »Désirée!«, schrie sie. »Es gab eine Désirée! Diesen Namen hat die Frauenstimme am Wassergraben gerufen.«
»Gott, Anouk, du jagst mir ja Angst ein!«, japste Max. »Komisch«, fuhr er fort und strich sich über den Nacken, »bei den Kindern sind gar keine Geburts- und Todesdaten mit angegeben. Nur bei diesem Georg Dietrich … der ist scheinbar tot auf die Welt gekommen.«
Anouk riss das Buch an sich und ignorierte Max’ Proteste geflissentlich. Sie betrachtete den Stammbaum eine Weile und schaute dann gedankenverloren zum Fenster hinaus.
»Das ging mir auch schon durch den Kopf«, pflichtete sie ihm bei. »Auf dem Friedhof steht
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