Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
ist nämlich leer wie die Wüste Gobi.« Dann drehte er sich schnell um und verschwand wieder im Computergeschäft, ohne Anouk die Möglichkeit zu lassen, sich dafür bei ihm zu bedanken.
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Das Dorfleben hatte also auch seine Vorzüge; in Zürich wäre ihr so etwas nicht passiert. Sie überquerte die Hauptstraße, mied die Bibliothek wie auch den Friedhof und setzte sich unter eine Pappel, die am Rand des Sportplatzes stand. Eine Jungenklasse übte mit mehr oder minder großem Enthusiasmus Weitsprung und warf ihr neugierige Blicke zu.
Anouk wechselte den leeren gegen den vollen Akku aus und rief ihre Mails ab. Die meisten kamen von ihrem Agenturbüro, das ihr mehrere Anfragen für Fotoshootings zur Kenntnis gab. Anouk leitete sie umgehend mit der Bitte wieder zurück, die Agentur möge sie höflich ablehnen und die Kunden auf später vertrösten. Sie wusste zwar, dass Models, die nicht sofort Gewehr bei Fuß standen, schnell weg vom Fenster waren. Doch im Moment lag ihr nichts am Modeln. Im Herbst würde sie dann weitersehen.
Über Kurator Rufli fand sie eine Fülle von Informationen im Internet. Er wurde allseits als der Experte bezeichnet, wenn es um Schloss Hallwyl und dessen Bewohner durch die Jahrhunderte ging. Es gab kaum einen Bericht über die Wasserburg, in dem er nicht als Quelle angegeben wurde. In einem Zeitungsbericht fand Anouk sogar den Hinweis, dass sich ein entfernter Nachkomme der Schlossherren mit dem Gedanken trug, Herrn Rufli den Titel eines Grafen zu verleihen – für seine anerkennenswerten Verdienste um die Geschichte seiner Vorfahren. Anouk verzog den Mund. Obwohl Adelstitel in der Schweiz während der französischen Invasion abgeschafft worden waren, konnte sie sich Rufli sehr gut in der Rolle eines Grafen vorstellen. Einen Titel mehr auf der Visitenkarte zu haben, war für manche Menschen, zu denen sie auch den Kurator zählte, ja ausgesprochen wichtig.
Über die Frau im roten Kleid fand sie keine Hinweise im World Wide Web. Sie wusste aber im Grunde auch nicht, welche Schlagworte sie dafür hätte eingeben müssen. Die Familiengeschichte der Herren von Hallwyl erschien zwar auf verschiedenen Seiten, aber über ein weibliches, junges, rothaariges Mitglied der Familie fand sie keine Informationen. Für die Zeitspanne, für die sie sich interessierte, erhielt sie immer nur die gleichen Vermerke, die auch Rufli in Bezug auf den Stammbaum derer von Hallwyl angegeben hatte. Ob vielleicht diese Viktoria die Dame auf dem Gemälde war? Anouk googelte nach Bildern besagter Gräfin, doch das Netz lieferte kein einziges, verwies in einem Text allerdings auf ein Bild, das sich in der Ahnengalerie des Schlosses befand. Die heutige Probe! Ob sie die Möglichkeit nutzen sollte, um sich zwischendrin wegzustehlen und die Familienporträts anzusehen?
Als sich eine Krähe auf der Pappel neben Anouk niederließ und sie mit geöffnetem Schnabel beäugte, raffte sie ihre Sachen zusammen und lief über den Sportplatz. Sie hatte die Schnauze gestrichen voll von diesen üblen, fliegenden Gesellen. Die Weitspringer pfiffen ihr bewundernd hinterher. Anouk schmunzelte, drehte sich um und zwinkerte den Jungs kokett zu, was diese in übermütiges Indianergeheul ausbrechen ließ.
Zu Hause fand sie eine frisch geföhnte, dauerwellengelegte Großtante vor, die am Herd stand und leise summend in einem Kochtopf rührte. Die Küche duftete nach Tomaten, Basilikum und Hackfleisch. Anouk lief das Wasser im Mund zusammen.
»Gut siehst du aus, Tati!«, sagte sie und hauchte ihr einen Kuss auf die faltige Wange.
»Danke, Liebes. Reichst du mir bitte das Salz?«
»Gern, aber sag mal«, wandte sie sich an ihre Großtante und gab ihr den Salzstreuer: »Wie hast du den Kurator eigentlich kennengelernt?«
Valerie streute eine Prise Salz in die Soße, kostete sie und nickte zufrieden.
»Herbert? Lass mich überlegen. Wir kennen uns ja schon ewig. Ich glaube, es war bei einer Tanzveranstaltung hier in Seengen. Früher gab’s fürs Jungvolk ja nicht viele Anlässe, um sich zu vergnügen. Ja, ich bin mir fast sicher, wir trafen uns, als ich mit meiner Schwester – deiner Großmutter – zum Tanzen ging. Wieso willst du das wissen?«
Anouk lehnte sich an den Kühlschrank und verschränkte die Arme.
»Nur so«, sagte sie gedehnt, griff nach einem Bund Basilikum und schnupperte daran. »Und ihr habt euch immer gut verstanden?«
Über Valeries Gesicht huschte ein Schatten. Sie warf Anouk
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