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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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Mr. Bentley anzurufen, schrieb ich ihm einen Brief. Darin beschrieb ich das Haus und die Massen von Papieren und erklärte, dass ich länger als erwartet zum Sortieren brauchen würde, und dass ich annähme, Mr. Bentley würde es mich wissen lassen, falls er mich früher in London benötigte. Ich machte auch eine oberflächliche Bemerkung über den schlimmen Ruf, den Eel Marsh House in dieser Gegend hatte, und dass es aus diesem Grund – wohl auch aus anderen, etwas nüchterneren Gründen – schwierig sein würde, Hilfe zu bekommen, ich aber nichts unversucht lassen würde. Die Angelegenheit dürfte jedoch trotz allem noch in dieser Woche abgeschlossen werden, und ich würde die offensichtlich wichtigen Papiere so schnell wie möglich nach London schicken.
    Dann legte ich den Brief auf den Tisch in der Eingangshalle, wo der Postbote ihn gegen Mittag mitnehmen würde, ging hinaus auf den Hinterhof und entdeckte das Fahrrad des Wirts, ein altmodisches Ding mit großen Rädern und einem großen Korb am Lenker, wie ihn die Londoner Metzgerjungen an ihren Lieferrädern haben. Ich stieg auf, radelte über den Marktplatz in eine Seitenstraße und hinaus ins freie Ackerland. Es war der perfekte Tag zum Radfahren, kalt genug, dass der Fahrtwind meine Wangen kühlte, und so hell und klar, dass ich in der flachen Gegend kilometerweit in alle Richtungen sehen konnte. Ich beabsichtigte, bis zum nächsten Dorf zu fahren, wo ich eine kleine Wirtschaft zu finden hoffte, in der ich mich statt eines warmen Mittagessens mit Brot und Käse und Bier stärken konnte. Doch als ich die letzten Häuser des Marktplatzes erreichte, konnte ich dem außerordentlich starken Drang nicht widerstehen, anzuhalten und – nicht westwärts, wo ich Felder und Höfe und die fernen Dächer eines Dorfes sehen würde, sondern – gen Osten zu blicken. Dort lagen sie, die glitzernden, lockenden, silbrigen Marschen, wo sich am Horizont der Himmel mit dem Wasser der Flussmündung vereinigte und ganz bleich war. Eine leichte Brise trug einen zarten Duft von Salz herüber. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich die geheimnisvolle Stille spüren, und wieder rief die unheimliche Schönheit dieser Gegend tief in mir eine eigenartige Regung hervor. Ich konnte von diesem Ort nicht weglaufen, ich würde zu ihm zurückkehren müssen – nicht jetzt gleich, aber bald. Ich war seinem Zauber verfallen, der mich anzog, der an meine Phantasie, meine Sehnsüchte, meine Neugier rührte.
    Ich starrte sehr lange in Richtung der Marschen und erkannte langsam, was mit mir geschah. Meine Gefühle waren so unberechenbar und extrem geworden, meine Nerven so gespannt, so reaktionsbereit, dass ich wie in einer anderen Dimension existierte. Mein Herz schien schneller zu schlagen, meine Bewegungen waren rascher, alles, was ich sah, war farbiger, die Umrisse waren schärfer. Und all das seit gestern. Ich fragte mich, ob ich auch anders aussah und ob die Veränderung so offensichtlich war, dass meine Freunde und Verwandten es bemerken würden. Ich fühlte mich älter und, wie ein Student vor der Prüfung, halb ängstlich, halb erwartungsvoll. Ich war gebannt.
    Doch jetzt – und es gelang mir, diesen akuten Gefühlszustand zu überwinden – würde ich mich bewegen, um mein seelisches Gleichgewicht zu wahren. Ich drehte das Fahrrad um, stieg wieder auf und radelte entschlossen die Landstraße entlang, den Rücken den Marschen zugewandt.

Spider
    E twa vier Stunden und knapp fünfzig Kilometer später kehrte ich zurück und fühlte mich sehr wohl. Ich war entschlossen durch die Gegend geradelt, hatte bewundernd gesehen, wie die letzten Zeichen des goldenen Herbstes in den frostigen Griff des Winters gerieten. Ich hatte die klare, kalte Luft im Gesicht gespürt und jegliche nervöse Angst und morbide Einbildung durch anstrengende körperliche Betätigung vertrieben. Ich hatte eine Dorfwirtschaft gefunden, Brot und Käse gegessen und mich danach sogar in einer einsamen Scheune eine Stunde lang ins Heu zum Schlafen gelegt.
    Als ich nach Crythin Gifford zurückkam, fühlte ich mich wie ein neuer Mensch, stolz, zufrieden und vor allem fast ungeduldig, mich dem Schlimmsten zu stellen, was Mrs. Drablows Haus und seine unheimliche Umgebung für mich bereithielt. Kurz gesagt, ich war unerschrocken, herausfordernd und fröhlich, und so bog ich etwas unachtsam auf den Marktplatz ein und wäre dabei fast mit einem großen Automobil zusammengestoßen, das mir aus der engen Kurve

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