Die Frau mit dem Muttermal - Roman
Geräusche legte. Alles mit ihrem kräftigen, lautlosen Sausen ausradierte.
Die Armeen der Stille, dachte er. Zu dieser Zeit und Stunde … Er schaute auf die Uhr und beschloss, das Wirtshaus aufzusuchen. Ein kleiner Spaziergang hin und zurück auf den vertrauten Wegen.
Nur um ein Bier zu trinken. Und vielleicht eine Frage beantwortet zu bekommen.
Waren in letzter Zeit irgendwelche Fremden hier gewesen?
Irgendwelche neuen Gesichter?
Als er zurückging, ruhte die Dunkelheit auf dem Hof. Das Haus und die knorrigen Obstbäume zeichneten sich kaum gegen den Wald ab, eher noch gegen den teilweise etwas helleren Himmel über dem Waldrand. Er hatte zwei Bier und einen kleinen Whisky getrunken. Hatte mit Lippmann und mit Korhonen gesprochen, die jetzt die Kneipe führten. Natürlich waren nicht viele Leute da, an einem ganz gewöhnlichen Werktag Anfang März. Und erst recht nicht viele Unbekannte, auch nicht in der letzten Zeit. Der eine oder andere war vorbeigekommen und hatte mal reingeschaut, aber keiner war häufiger als einmal dort gewesen. Frauen? Nein, absolut nein, soweit sie sich erinnern konnten. Weder bei Lippmann noch bei Korhonen. Warum er denn fragte? Ach so, Geschäfte! Haha, und
er meinte, das würden sie so einfach schlucken? Das konnte er seiner Großmutter erzählen, haha. Und Prost. Und schön, dich wieder hier zu sehen.
Heimkehren.
Auf leisen Sohlen ging er über das nasse Gras. Den ganzen Abend hatte es nicht geregnet, aber der feuchte Nebelschleier war von der Küste herübergezogen und hatte sich über die offene Landschaft vor dem Wald wie eine unsichtbare Decke gelegt. Manchmal blieb er lauschend stehen, hörte aber nur die gleiche intensive Stille wie zuvor. Sonst nichts. Er ging hinters Hinterhaus und entledigte sich des Biers. Schob dann vorsichtig die Tür auf, die immer etwas quietschte, doch dieses Mal nicht. Er würde sie auf jeden Fall morgen schmieren. Für alle Fälle.
Frierend kletterte er die schmale Treppe hinauf. Tastete sich zu seinem Nachtlager vor. Entfaltete und ordnete die Decken eine Weile lang. Kroch dann darunter und legte sich zurecht. Rollte auf eine Seite und schaute hinaus. Das Haus lag dunkel und leblos da. Kein Laut. Keine Bewegung. Er schob die Pistole unters Kissen und legte seine Hand darauf. Er durfte natürlich nur einen leichten Schlaf zulassen, aber den hatte er sowieso. Er wachte auch sonst bei dem geringsten Geräusch auf.
Das würde er jetzt sicher auch.
Die Decken eng um den Körper. Das Gesicht dicht an der Fensterscheibe. Die Hand auf der Waffe.
So. Jetzt konnte sie kommen.
36
»Ich weiß nicht«, meinte der Hauptkommissar. »Das ist nur so eine Überlegung. Wenn die drei hier irgendwas gemeinsam gehabt haben, dann sollte man doch denken, dass zumindest ein paar der anderen etwas gemerkt haben. Also ist es eher wahrscheinlich,
dass erst gegen Ende der Ausbildung was passiert ist. Aber das sind natürlich nur Spekulationen.«
»Da ist schon was dran«, stimmte Münster zu.
»Also, Vergewaltigungen im Frühjahr 1965. Wie viele hast du gefunden?«
»Zwei«, sagte Münster.
»Zwei?«
»Ja. Zwei angezeigte Vergewaltigungen, beide im April. Ein Mädchen, das im Park überfallen wurde. Die zweite geschah in einer Wohnung in Pampas.«
Van Veeteren nickte.
»Wie viele Täter?«
»Einer im Park. Zwei in der Wohnung. Die aus der Wohnung sind verurteilt worden, der im Park hat entkommen können. Man hat ihn nie gefunden.«
Der Hauptkommissar blätterte eine Weile in seinen Papieren. »Weißt du, wie viele Anzeigen wir bis jetzt in diesem Jahr hatten?«
Münster schüttelte den Kopf.
»Sechsundfünfzig. Kann der Herr Kommissar mir erklären, wieso die Zahl der Vergewaltigungen insgesamt so in die Höhe schießen konnte?«
»Nicht die Zahl der Vergewaltigungen«, entgegnete Münster. »Die der Anzeigen.«
»Stimmt«, bestätigte der Hauptkommissar. »Und was meinst du, wie groß sind die Chancen, eine dreißig Jahre zurückliegende, nicht angezeigte Vergewaltigung herauszufinden?«
»Gering«, antwortete Münster. »Woher wissen wir überhaupt, dass es sich um eine Vergewaltigung handelt?«
Der Hauptkommissar seufzte.
»Das wissen wir nicht. Aber wir können ja nicht nur dasitzen und Däumchen drehen. Du bekommst stattdessen eine andere Aufgabe. Wenn was dabei rauskommt, lade ich zum Essen bei Kraus ein.«
Mission impossible , dachte Münster, und das dachte der Hauptkommissar offensichtlich auch, denn er räusperte sich
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