Die Frau mit dem Muttermal - Roman
Blicken von der Straße – ein Ausdruck, den seine Mutter immer zu benutzen pflegte und den er nie aus seinem Kopf hatte kriegen können. Obwohl er ja gerade heute seine Berechtigung hatte. Die Küchentür war auch auf der Rückseite, aber jetzt wollte er seinen Proviant noch nicht hineintragen. Er stieg aus dem Wagen und nahm zunächst das Haus in Augenschein. Von außen und innen. Die Küche und die drei Zimmer. Den Dachboden. Den Keller. Keine Spur. Sie war nicht hier, und sie war auch nicht hier gewesen. Noch nicht. Er sicherte seine Pistole und schob sie in die Manteltasche.
Aber sie würde kommen. Er begann, die notwendigen Sachen hineinzutragen. Stellte den Strom an. Setzte die Pumpe in Betrieb. Ließ das Wasser eine Weile laufen und spülte die Toilette. Seit Oktober, als er für ein Wochenende mit einem Geschäftsfreund hier gewesen war, hatte niemand einen Fuß in das Haus gesetzt, aber alles schien funktionstüchtig zu sein. Nichts war im Laufe des Winters kaputtgegangen. Der Kühlschrank brummte. Die Heizung wurde langsam warm. Fernseher und Radio funktionierten.
Für einige Sekunden schienen die Freude des Wiedersehens und das Gefühl der Heimkunft den Zweck seines Aufenthalts zu überdecken. Die meisten Möbel – wie auch die Bilder und Wandbehänge sowie all die vielen Kleinigkeiten – waren noch an derselben Stelle wie in seiner Kindheit, und gerade der Augenblick der Ankunft, dieses erste Wiedersehen, brachte jedes Mal das Gefühl eines Zeitrisses mit sich. Schnell und schwindelerregend. Wie auch jetzt, aber dann holte ihn natürlich gleich wieder der Grund seines Aufenthaltes ein.
Der Grund?
Er löschte das Licht. In der Dunkelheit sah der Hinterhof fast heimelig aus, und er wusste, ganz gleich, was auch geschehen würde, er brauchte auf jeden Fall kein Licht, um sich hier zu bewegen. Draußen und drinnen herumzugehen. Er kannte jede Ecke und jeden Winkel. Alle Türen und alle knarrenden
Treppenstufen. Leitern, Büsche und hervorstehende Wurzeln. Jeden Stein. Alles war dort, wo es immer gewesen war, und das gab ihm ein Gefühl des Trostes und der Sicherheit, das er möglicherweise bereits während seiner ganzen Planung erhofft, sich aber nie wirklich eingestanden hatte.
Das Hinterhaus also.
Er hakte die Tür auf. Schleppte die unhandliche Matratze die Treppe hinauf. Legte sie vors Fenster. Es war niedrig hier oben. Man musste kriechen oder gebeugt gehen. Er ging noch einmal hinaus, um Kissen und Decken zu holen. Hier draußen war es kälter, es gab keinen Heizkeller, und ihm war klar, dass er sich gut einmummeln musste.
Er schob die Matratze hin und her, bis sie unter dem schrägen Dach die optimale Position hatte. Legte sich hin und kontrollierte, ob alles richtig war. Ob seine Überlegungen stimmten. Nahezu perfekt. Durch das unebene, alte Fensterglas sah er auf den Giebel des Wohnhauses hinunter und hatte gleichzeitig den Haupteingang und die Küchentür im Blick. Auf nur sechs, acht Meter Abstand.
Er öffnete das Fenster einen Spalt weit. Schob prüfend die Hand mit der Waffe hinaus. Schob sie vorsichtig vor und zurück. Zielte. Würde er auf diesen Abstand treffen?
Wahrscheinlich. Vielleicht nicht gleich beim ersten Mal tödlich, aber er könnte sicher zwei, drei Schüsse abfeuern.
Das müsste reichen. Zweifellos. Er war kein schlechter Schütze, auch wenn es schon ein paar Jahre her war, dass er mit zur Jagd gegangen war. Er ging wieder ins Haus. Trug noch ein paar Decken und einen Teil des Proviants nach hinten. Schließlich war ja geplant, dass er hier liegen sollte. Er wollte so viel Zeit wie möglich genau in der richtigen Position auf dem Dachboden des Hinterhauses verbringen.
Wollte dort liegen, wenn sie kam.
Wollte dort im Hinterhalt liegen und den Gnadenschuss abfeuern. Durch diesen Fensterspalt endgültig dieser verrückten Hündin ein Ende bereiten.
War einfach Glück, würde er danach der Polizei sagen. Hätte genauso gut sein können, dass sie mich erwischt … nur gut, dass ich mich vorbereitet hatte!
Notwehr. Scheiße, natürlich war es Notwehr, er brauchte nicht einmal zu lügen.
Nur die Ursache selbst außen vor lassen. Die Wurzeln des Bösen. Den Grund, warum er wusste, dass er an der Reihe war.
Dabei ließ er es erst mal bewenden. Kletterte wieder hinunter auf den Hinterhof und lauschte.
Sonderbar, wie still es hier ist, dachte er, und ihm fiel ein, dass ihm genau das immer hier aufgefallen war. Die Stille, die vom Wald herkam und sich über alle
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