Die Frau mit dem Muttermal - Roman
entschuldigend.
»Ich möchte eine Liste aller Geburten, bei denen die Mutter den Vater als unbekannt angegeben hat … ungefähr in der Zeit vom Dezember 65 bis März 66. Ort und Distrikt. Name der Mutter, Name des Kindes.«
»Vor allem Mädchen?«, fragte Münster.
»Nur Mädchen«, bestätigte der Hauptkommissar.
Am Abend ging er ins Kino. Sah zum vierten oder vielleicht sogar schon zum fünften Mal Tarkowskis Nostalghia. Mit den gleichen Gefühlen der Verwunderung und Dankbarkeit wie immer. Das Meisterwerk der Meisterwerke, dachte er, während er in dem halb leeren Kinosaal saß und sich von den Bildern einfangen ließ, und plötzlich fielen ihm ein paar Worte ein, die sein Konfirmationspfarrer einmal gesagt hatte – ein sanfter Verkünder mit großem, weißem Bart, der sicher von vielen in der Gemeinde als ein sehr enger Verwandter Gottes angesehen wurde.
Es gibt das Böse auf der Welt, hatte er erklärt, aber niemals und nirgends so viel, dass es nicht noch Spielraum für gute Taten gäbe. An und für sich keine besonders beeindruckende Äußerung, aber sie hatte sich in seinem Kopf festgebissen und tauchte immer mal wieder auf.
Wie jetzt. Gute Taten?, überlegte Van Veeteren, während er nach dem Film nach Hause ging. Wie viele führen ein kümmerliches Leben, in dem nicht einmal die Nostalgie einen Platz hat? Bringt sie deshalb diese Männer um? Weil sie nie eine Chance hatte?
Und der Spielraum für gute Taten? Gab es den wirklich immer? Wer war es eigentlich, der den Kuchen aufteilte? Und warum sollte alles irgendwie einen Sinn haben? Alle Handlungen.
Es passiert einfach, dachte Van Veeteren. Sachen und Dinge
geschehen. Aber sie müssen nicht entweder gut oder böse sein.
Und sie müssen nicht jedes Mal etwas bedeuten.
Und die Finsternis in ihm wuchs.
Ich bin ein verflucht müder, alter Polizeischnüffler, der zu viel gesehen hat und nichts mehr sehen möchte, dachte er. Ich möchte das Ende dieses Falls, der mich jetzt schon seit eineinhalb Monaten beschäftigt, gar nicht sehen. Möchte den Zug verlassen, bevor wir die Endstation erreichen.
Er bog bei Klagenburg ab und überlegte eine Weile, ob er ins Café gehen sollte oder nicht. Er kam zu keinem Entschluss, aber seine Schritte führten von ganz allein an der erleuchteten Tür vorbei, und er ging automatisch weiter heimwärts.
Das geschah einfach so, dachte er. Ebenso gut hätte ich hineingehen können.
Und als er später im Bett lag, gab es zwei Gefühle, die sich seiner bemächtigten und ihn wach hielten.
Auch in diesem Fall wird etwas geschehen. Einfach nur geschehen. Bald.
Dann tauchte das Bild von Ulrike Fremdli – Karel Innings’ Frau – plötzlich auf. Hing einfach in dem dunklen Nebel zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Schlaf und Wachen, und wurde langsam unscharf und verwob sich mit Tarkowskis Kirchenruinen und Gortschakows Wanderung durch das Wasser mit dem flackernden Licht.
Irgendetwas musste geschehen.
37
»Hallo?«
Jelena Walgens’ Gehör war nicht mehr das, was es einmal gewesen war. Es fiel ihr besonders schwer, die Leute am Telefon zu verstehen, und natürlich hätte sie es lieber gehabt, die Sache bei einer Tasse Kaffee zu besprechen. Mit einem Stück
Kuchen dazu. Eine Plauderstunde übers Wetter und dies und das. Aber der junge Mann war hartnäckig, dabei aber ganz nett, und so ging es natürlich auch. Treffen mussten sie sich ja auf jeden Fall.
»Wie lange, sagten Sie? Nur einen Monat? Ich hätte es schon gern etwas länger vermietet …«
»Ich kann etwas mehr bezahlen«, erklärte der junge Mann. »Ich bin Schriftsteller. Alois Mühren, ich weiß nicht, ob Sie schon von mir gehört haben?«
»Ich glaube nicht …«
»Was ich suche, das ist ein ruhiges Plätzchen, an dem ich die letzten Kapitel meines neuen Buches schreiben kann. Dazu brauche ich auf keinen Fall mehr als einen Monat. Aber all die Menschen und das Treiben in der Stadt sind so störend, wenn Sie verstehen …«
»Das tue ich«, sagte Jelena Walgens und suchte in ihrem Gedächtnis. Doch sie verband nichts mit diesem Namen … sie las zwar dies und das und hatte noch mehr gelesen, als sie jung war, aber vielleicht hatte sie ja auch nicht richtig gehört. Alois Mühlen? War das der Name?
»Also einen Monat«, sagte sie. »Dann bis zum ersten April, ist das in Ordnung?«
»Wenn es geht, ja. Aber Sie haben vielleicht noch andere Interessenten?«
»Ein paar«, log sie. »Aber es hat sich noch keiner entschieden.« In
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