Die Frau mit dem roten Herzen
Antrag. Vielleicht hatte Gu ja mit dem alten Kräuterarzt Kontakt aufgenommen.
Nach zehn Minuten erschien seine Nummer auf der Leuchtanzeige. Er trat in die Zelle und griff zum Hörer.
»Ich bin’s, Chen Cao. Guten Abend, Herr Ma. Hat sich Gu bei Ihnen gemeldet?«
»Ja, das hat er. Ich habe schon versucht, Sie im Präsidium zu erreichen, aber die haben mir gesagt, Sie seien in Hang-zhou.«
»Was wollte Gu von Ihnen?«
»Schien sich ernsthafte Sorgen um Sie zu machen. Er sagte, einflußreiche Leute seien hinter Ihnen her.«
»Wer sollte das denn sein?«
»Das habe ich ihn auch gefragt, aber er wollte es mir nicht erzählen. Statt dessen fragte er mich, ob ich schon mal von einer Hongkonger Triade namens Grüner Bambus gehört hätte.«
»Grüner Bambus?«
»Ja. Ich habe heute nachmittag ein bißchen herumgefragt. Es handelt sich um eine international operierende Organisation mit Sitz in Hongkong.«
»Weiß man etwas über deren Aktivitäten in Shanghai?«
»Bislang nicht. Ich werde mich weiter erkundigen. Und passen Sie bitte auf sich auf, Oberinspektor Chen.«
»Das werde ich. Sie aber auch, Herr Ma.«
Mit schleppenden Schritten verließ er das Postamt. Alles schien plötzlich so verworren wie der Wurzelstock eines Bambus. Grüner Bambus. Bis heute hatte Oberinspektor Chen nicht von dieser Geheimgesellschaft gehört.
Dann verlor er sich in der unbekannten Stadt. Nach einigen falschen Abzweigungen gelangte er zum Baosu-Pagodengarten. Er kaufte sich eine Eintrittskarte, obgleich es für eine Besichtigung der Pagode bereits zu spät war.
Statt dessen streifte er in der Hoffnung auf erhellende Gedanken ziellos im Park umher. Er sah ein junges Mädchen lesend auf einer Bank sitzen. Sie konnte nicht älter als achtzehn oder neunzehn sein und saß, einen Füller in der einen, einen Bleistift in der anderen Hand, auf einem ausgebreiteten Stück Zeitung. Ihre Lippen berührten die glänzende Kappe des Füllers, ihr geschwungener Pferdeschwanz flatterte im Windhauch wie ein Schmetterling. Dieser Anblick erinnerte ihn an eine längst vergangene Szene im Bund-Park.
Was sie wohl las? Einen Gedichtband vielleicht? Er trat einen Schritt näher und mußte feststellen, daß er völlig falsch lag. Der Titel auf ihrem Buch lautete Moderne Marktstrategien. Jahrelang waren die Börsen geschlossen geblieben, doch jetzt hatte ein wahrer »Spekulationswahn« das Land erfaßt und war selbst in die Winkel dieser alten Gärten gedrungen.
Er stieg auf einen kleinen Hügel und blieb einige Minuten auf diesem Ausguck stehen. In der Nähe rauschte eine Wasserkaskade, in der Ferne konnte er ein flackerndes Licht erkennen. Die Sterne standen an diesem Aprilabend besonders hoch und leuchtend und schienen ihm durch seine Erinnerungen zuzuwispern …
Die Sterne von damals, die Nacht, sie sind verloren,
doch nicht jene, für die ich in Frost und Wind gefroren.
An diesem Abend war es nicht ganz so schlimm wie in Huang Chongzhes Zeilen, zumindest nicht so kalt. Er pfiff vor sich hin, um die Trübsal zu vertreiben. Es war ihm nicht vergönnt, Dichter zu sein. Auch war er kein Auslandschinese, der mit seiner amerikanischen Freundin das Grab seines Vaters besuchte, wie diese alten Frauen vermutet hatte. Nicht einmal als Tourist konnte er sich müßig in der alten Stadt Suzhou vergnügen.
Er war ein Polizeibeamter in Zivil, der in einem Fall ermittelte, und er konnte keine vernünftige Entscheidung treffen, bevor er nicht das für den nächsten Tag geplante Gespräch geführt haben würde.
28
F RÜH AM NÄCHSTEN M ORGEN standen sie vor Lius Anwesen in einem Vorort von Suzhou.
Inspektor Rohn war beeindruckt von dem westlichen Prunk. Liu bewohnte ein imposantes Haus hinter hohen Mauern, ein deutlicher Kontrast zu den sonstigen Wohnverhältnissen in der Stadt. Das schmiedeeiserne Tor war nicht verschlossen, und sie traten ein. Der Rasen war gepflegt wie auf einem Golfplatz. Neben der Auffahrt stand die Marmorstatue eines badenden Mädchens. Es beugte nachdenklich den Kopf, so daß das üppige Haar in Kaskaden über ihre Brüste fiel.
Oberinspektor Chen drückte auf den Klingelknopf. Eine Frau öffnete.
Catherine schätzte sie auf Ende Dreißig oder Anfang Vierzig wegen der Fältchen um die Augenwinkel, doch diese beeinträchtigten nicht ihr gutes Aussehen. Sie trug ein lila Oberteil aus Seide über passenden Hosen und hatte sich eine weiße Schürze umgebunden. Trotz ihres konservativen Haarknotens konnte man sie als
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