Die Frau mit dem roten Herzen
ließ sich Tongs Urteil anzweifeln. Diese Ganoven, seien sie nun aus Hongkong oder Fujian, waren sich für nichts zu schade. Aber warum sollten die Fliegenden Äxte eine Hongkonger Kontaktperson zu Tong schicken, wo sie doch bloß Masseuse in einem Provinzkaff war? Was war dieses »etwas«, das die Triade so irritierte, daß sie alles daransetzte, Wen zu finden?
Tong war vielleicht keine verläßliche Informantin, aber dennoch wurde Chen seine böse Vorahnung nicht los.
Seine früheren Hypothesen konnten auf fatale Weise ins Leere gegangen sein. Er wußte nur, daß der Fall jetzt vor einer entscheidenden Wende stand. Ein falscher Zug, und Chen hätte das Spiel unwiderruflich verloren.
In einer Go-Partie würde er jetzt den Schauplatz wechseln, sich zeitweilig auf eine andere Auseinan dersetzung konzentrieren oder eine neue provozieren. Strategische Neupositionierung nannte man das. Dann konnte man unter veränderten Bedingungen ein Comeback starten. Er konnte allerdings auch alles hinschmeißen, den Fall zu den Akten legen, aufge ben.
In den Augen von Parteisekretär Li hatte Oberinspektor Chen seine Aufgabe bereits zur Zufriedenheit erfüllt; und Catherines Chef hatte sie zurückbeordert.
Was Wen Liping betraf, so mußte er, auch wenn das zynisch klang, zugestehen, daß sie da, wo sie sich derzeit befand, nicht viel schlechter dran sein konnte als an der Seite ihres Mannes.
In einer Hinsicht mußte er Parteisekretär Li recht geben. Inspektor Rohns Sicherheit hatte allerhöchste Priorität, und Chen fühlte sich für sie verantwortlich. Das »um jeden Preis« jenes Ganoven jagte ihm Schauder über den Rücken. Wenn ihr irgend etwas zustieße, würde er sich das nie verzeihen.
Und zwar nicht nur aus politischen Gründen.
Am heutigen Tag hatte er ihre Sympathie besonders deutlich gespürt, vor allem am Grab seines Vaters. Niemand hatte ihn bisher dorthin begleitet. Diese Geste bedeutete ihm viel. Er spürte, daß für ihn Inspektor Rohn, trotz aller Unterschiede zwischen ihnen, mehr war, als nur eine zeitweilige Partnerin bei einer Fahndung.
Doch solche Erwägungen erschienen absurd angesichts eines Falls, der in tausend ungelösten Fragen, Komplikationen und Unwägbarkeiten festgefahren war. Und Wen Liping war noch immer nicht gefunden.
Durfte er in einem Moment aufgeben, wo nationale Interessen und Fengs Aussage gegen Jia auf dem Spiel standen? Wo Wen, eine hilflose schwangere Frau ohne Geld und Job, von den Achtzehn Äxten bedroht war?
Die Zigarette verbrannte ihm die Finger.
Er verspürte das Verlangen, all diese widersprüchlichen Gedanken über Wen, die Politik und sich selbst zu vergessen und sich einen Abend lang in den Tempel am Kalten Berg zurückzuziehen. Er wollte den Mond über dem Ahorn-Fluß aufgehen sehen, den Schrei der Krähen hören, beobachten, wie der frostige Himmel sich über ihm entfaltete, wie die Ahornbäume am Ufer schwankten, wie die Lampen der Fischer aufblitzten und das Boot eines Gastes Schlag Mitternacht anlegte … Er wollte sich, wenn auch nur für einen Augenblick, in der Welt der Tang-Dichtung verlieren.
Als er aus seinem Zimmer trat, sah er, daß bei Catherine noch Licht brannte, aber er ging die Treppen hinunter zur Rezeption. Dort griff er zum Telefonhörer, doch dann zögerte er. Einige Leute standen müßig herum, andere saßen in Hörweite vor dem Farbfernseher. Er legte den Hörer wieder auf und trat hinaus.
Auch unter der neuen Politik der »offenen Tür« schien sich Suzhou kaum verändert zu haben. Hier und da wuchsen neue Wohnblocks zwischen den alten Backsteingebäuden empor, aber öffentliche Telefonzellen gab es offenbar nicht. Auf seinem Weg gelangte er zu einer alten, elegant geschwungenen weißen Steinbrücke. Kaum hatte er sie überquert, fand er sich in einer modernen, hell erleuchteten Einkaufsarkade mit einer Vielzahl von Geschäften wieder. Er schien in einem anderen Zeitalter angelangt zu sein.
An einer Ecke der Passage fand er ein geöffnetes Postamt, in dessen weitläufiger Halle Menschen vor einer Reihe verglaster Telefonzellen warteten. Leuchtanzeigen über den Türen zeigten die Stadt und die Nummer des gewünschten Gesprächs an. Eine Frau in mittlerem Alter blickte auf, sah ihren Aufruf und ging in die entsprechende Zelle.
Er füllte ein Formular für einen Anruf bei Gu aus. Doch dann zögerte er abermals. Jemandem wie Gu sollte er seinen Aufenthaltsort besser nicht mitteilen. Also schrieb er statt dessen die Nummer von Herrn Ma auf den
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